Samstag, 18. April 2020

Gemein und frei

Jeder, der durch die Liste der Bücher von Philip K. Dick bei Amazon (oder sonstwo) blättert, kennt es: Die vielen zunächst erst mal „merkwürdigen“ Einzelveröffentlichungen von Kurzgeschichten, die meist bei bzw. über CreateSpace publiziert sind.
Die eigentliche Ursache für die Masse dieser Publikationen liegt in den 80er Jahren. Dick, sein Agent, Verleger oder Nachlassverwalter haben es versäumt, die frühen Kurzgeschichten ordnungsgemäss für ein Copyright neu registrieren zu lassen. Die Regelung seinerzeit verlangte es, das Copyright nach 28 Jahren zu verlängern. Das ist für knapp 30 Kurzgeschichten zwar passiert, aber nicht korrekt, es gab sehr viele offenbar fehlerhafte Angaben. Man kann dies bei Michael Fisher bei den PhilipKDickFans nachlesen oder bei SFFaudio, wo Jesse Willis etwas expliziter bei seinen Vermutungen bezüglich der fehlerhaften Registrierungen ist.
Beyond Lies the Wub von Aegypan (2011), einem Verlag, der immerhin ein
relativ originelles Umschlagbild bietet – und zusätzlich zur oben gezeigten
Paperback-Ausgabe auch ein sonst identisches Hardcover im Programm hat
Das ganze Thema wurde 2011 öffentlich, als es eine grössere Kontroverse um das Copyright von Dicks Kurzgeschichte Adjustment Team, auf Deutsch Umstellungsteam, gab. Der amerikanische Produzent George Nolfi hatte die Geschichte aufwändig unter dem Titel The Adjustment Bureau, auf Deutsch heisst der (hierzulande leider recht erfolglose) Film Der Plan, u. a. mit Matt Damon verfilmt. Dafür hat er an die im Philip K. Dick Trust organisierten Erben, seine drei Kinder, erhebliche Zahlungen geleistet. Die Produktionsgesellschaft hat gegen Ende der Produktion weitere Zahlungen an den Trust verweigert, weil der offenbar gar kein gültiges Copyright besass. Der Trust musste schliesslich seine Klagen fallenlassen und die prekäre Copyright-Situation war öffentlich.
In der Folge haben dann Kleinstverlage oder auch Einzelpersonen die gemeinfreien Texte einzeln und in Sammlungen herausgegeben. Dieses Phänomen betrifft ganz allgemein auch andere Autoren, nicht nur in der Science Fiction. Und natürlich machen es Publikationsplattformen wie Amazon mit CreateSpace sehr einfach ein solches Buch herauszubringen – man braucht nur ein bisschen Zeit, aber kein Kapital.
Leider braucht man auch gar kein Geschick. Es gibt eben keinen (teuren) Lektor beim Verlag, der wenigstens das Schlimmste verhindert. Der Satz im Buch ist oft schlecht und man findet auch Fehler, die bei der Übertragung passiert sind. In den Anthologien sind die Geschichten oft in alphabetischer Reihenfolge, das ist kein Zeichen liebevoller Aufmerksamkeit. Und auch die Einbände der Bücher oder Hefte – denn die meisten Ausgaben sind Broschüren oder Hefte, aber keine richtigen Bücher – sind meist einfach, langweilig oder selbst wieder belanglose gemeinfreie Motive, die man von anderer Stelle genommen hat. Als Ergebnis gibt es einigen Ausgaben, bei denen sogar die Titel auf den Umschlägen falsch geschrieben sind: Beyond Lie the Wub kann man lesen, allerdings hatte seinerzeit auch der distinguierte Gollancz Verlag zeitweilig ein Wubb im Angebot. Und auch OF withered Apples & Exhibit Peace muss man auf einem Buch lesen – und so sehr man sich den Frieden wünscht, um den es in der Kurzgeschichte geht, so heisst sie bei Dick doch Exhibit Piece. Es gibt aber auch einige kreativ illustrierte Ausgaben, deren Inhalt ich aber nicht gesehen habe und Ausgaben mit neuen Einführungen, also zumindest etwas Mehrwert.
Überwiegend sind die Ausgaben aber Schrott – und dabei nicht einmal billig. Eine Kurzgeschichte kommt auf sieben Euro und mehr … für 10 Euro bekommt man schon den ersten (regulären) Band der Collected Stories verlagsneu mit fast allen der gemeinfreien Geschichten, 26 in diesem Band, mit Anmerkungen, Vorwort und einem schönen Umschlagbild. Und antiquarisch zahlt man noch weniger …
Diese gemeinfreien Ausgaben existieren also wohl hauptsächlich, weil es so einfach ist, sie zu erstellen, nicht, weil sie jemand braucht oder will. Oder gibt es jemanden, der so etwas kauft? Die Antwort auf diese Frage ist natürlich immer: Sammler. Eines der Bücher trägt auch den Blub: A 'Must Have' Book For Your CollectionAber gibt es wirklich genug Sammler, die sich mehr als 300 unattraktive Ausgaben von 26 Kurzgeschichten von Philip K. Dick kaufen?
Dieser Sammler belässt es bei der einen gezeigten Ausgabe, die antiquarisch (also nachhaltig) erworben wurde. Erwähnen sollte man aber, dass die Ausgabe Dicks ersten Satz, quasi das Motto der Kurzgeschichte, enthält, der in allen regulären englischen Sammlungen fehlt und jetzt erstmals von Aegypan zurückgebracht wurde:
The slovenly wub might well have said: Many men talk like philosophers and live like fools.
Zusätzlich zu den Einzelausgaben gibt es auch rund 30 Sammlungen dieser Geschichten (mit einem besseren Preis-Leistungs-Verhältnis) sowie fast 30 Anthologien, die zumindest eine Kurzgeschichte von Dick enthalten.
Seite 69 von Planet Stories, Juli 1952 mit der
ersten Veröffentlichung von Philip K. Dick – man
erkennt, wo sich Aegypan für das Umschlagbild
hat inspirieren lassen, zu sehen auch das Motto
Man kann aber davon ausgehen, dass diese Ausgaben wirklich einmal selten sein werden, denn als Print-on-demand sind sie nur scheinbar ewig verfügbar. Sobald der Herausgeber dahinter verschwindet, verschwindet auch das Angebot, einige ältere Angebote sind bereits nicht mehr lieferbar. Und antiquarisch werden sich diese Ausgaben nur schwer finden lassen, da sie in kleinster Auflage verkauft sind und ob ihrer offensichtlich geringen Qualität schlechtere Überlebenschancen haben als hübsch gebundene richtige Bücher.

Und in Deutschland?

Die beschriebene Copyright-Situation gilt so natürlich nur für die USA, in Deutschland sind die Originaltexte mutmasslich doch noch unter Copyright, die deutschen Übersetzungen aber in jedem Fall. Ohne eine gute Rechtsberatung (die wohl mehr kostet, als so ein Buch verdienen kann) sollte man so etwas also nicht probieren. Es gibt aber doch zwei deutsche Ausgaben, allerdings nicht gedruckt sondern für das elektronische Kindle Lesegerät von Amazon (natürlich gibt es zahllose englische Ausgaben für den Kindle).
Diese offenbar neu übersetzen deutschen Ausgaben von Beyond Lies the Wub, hier als Und Jenseits das Wub und The Gun, auf Deutsch Die Kanone, von 2015 sind beim obskur wirkenden fuxbau Verlag erschienen. Zumindest das Wub beinhaltet zusätzlich den englische Originaltext und übernimmt die gezeigte Illustration im Textteil und auch das Motto. Die Übersetzung ist neu von Daniel Reich gemacht. Aber die kann, soweit die Vorschau bei Amazon das erkennen lässt, nicht begeistern: Da versinkt ein Gesicht in Finsternis (wird es denn schon dunkel?), ich folge da eher Walter Grossbein und lese lieber von einer düsteren Miene, und bei Reich wird Kleidung eingesammelt (warum liegt die denn da?) und nicht das Gewand gerafft, was hier ganz plausibel wäre, um anzuzeigen, dass der Träger der Kleidung gerade gehen möchte. Gut zu übersetzen, ist eben nicht einfach. Aber ich will hier keinen Übersetzerkrieg beginnen.
Interessant ist aber, dass das scheinbar geht, fuxbau veröffentlicht immerhin zwei Texte. Allerdings kann man das Impressum und die Nennung des Copyrights vom Wub in der kostenfreien Vorschau nur unvollständig sehen. Und Die Kanone ist beim deutschen Amazon gar nicht verfügbar, nur beim amerikanischen Amazon.com, das ist für einen deutschen Text eher ungewöhnlich. Und schliesslich bleibt es auch seit 2015 bei diesen beiden Ausgaben.
Für die eigene Recherche nach den beschriebenen gemeinfreien Ausgaben würde ich, ausser Amazon, die Webseite des Queen Anne Buchladens in Seattle empfehlen. Tatsächlich finden sich dort viele Ausgaben, die ich andernorts nicht (mehr) finden konnte. Zu einer tieferen Beschäftigung mit dem Thema kann ich aber niemanden raten. 
Einen Überblick über die gemeinfrei veröffentlichten Kurzgeschichten gibt eine Seite hier im Blog, deren Erstellung recht aufwändig – wirklich sehr aufwändig – war und die trotzdem vermutlich fehlerhaft ist: einerseits unvollständig, andererseits mag die eine oder andere Veröffentlichung darauf geraten sein, die es nicht verdient hat. Insbesondere bei den sehr frühen Büchern von 2009 bin ich mir nicht sicher, ob hier nicht das Copyright beachtet wird, denn so früh wurde die Copyright-Situation gar nicht diskutiert.
Einen vollständigen Scan von Planet Stories vom Juli 1952 mit dem Original-Wub findet man im Internet Archive. Ein paar der gemeinfreien Geschichten lassen sich bei PKD-Books nachlesen.

Preise

"Beyond Lies the Wub", Band 1 der "Collected Stories". Orion/Gollancz. ISBN 9781857988796, neu ab 10 Euro
Die meisten der "gemeinfreien" Ausgaben liegen zwischen 8 und 15 Euro

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