Samstag, 11. März 2023

Weniger ist immer weniger

Philip K. Dicks Romane wurden für die frühen deutschen Veröffentlichungen gekürzt. Das betrifft nicht nur die (allerdings besonders betroffenen) Heftromane, auch die frühen Taschenbücher von Goldmann sind mit Kürzungen erschienen.
Die Gründe für die Kürzungen waren kommerzielle: Heftromane hatten für den Umfang einen seitengenaue Vorgabe, auch die Bücher durften nicht zu dick werden – Papier war (noch) teuer, auch andere produktionstechnische Beschränkungen (Anzahl der Bögen pro Buch usw.) mögen Einfluss gehabt haben. Diese Goldmann-Ausgaben sollen später betrachtet werden, in diesem Eintrag geht es um eine merkwürdig späte Beschneidung.
Drei teilweise gekürzte Ausgaben von Simulacra
Simulacra: Mariner (ungekürzt), Knaur (übersetzt) und Heyne (gekürzt)
Geschrieben 1963, erstveröffentlicht bei Ace 1964 als The Simulacra, ist die deutsche Erstausgabe von Simulacra erst 1978 bei Droemer-Knaur herausgekommen, übersetzt ist sie von Uwe Anton. Das ist besonders erwähnenswert, weil Anton tatsächlich nur diesen einen Roman von Dick übersetzt hat (man kann aber auch die Kosmischen Puppen noch hinzurechnen). Natürlich gibt es noch zahlreiche weitere Übersetzungen von Texten von Dick durch Anton, aber das sind einzelne Essays und sonstige kurze unselbstständige Texte. Weiterhin ist Simulacra der einzige Beitrag von Knaur zu Philip K. Dick.
Die zweite (und derzeit letzte – Fischer hat sie nicht herausgebracht) Ausgabe ist dann 2005 in der Mitte der Philip K. Dick Edition erschienen. Dafür wurde die Übersetzung von Alexander Martin „überarbeitet“. Martin ist mit Anton als Koautor der Übersetzung genannt und hat sechs weitere Editionsausgaben überarbeitet. Ich vermute, dass es sich auch hier um eine Arbeit von Martin an Antons Text handelt und nicht um eine gemeinsame Arbeit für die Ausgabe von 2005.
Diese von Martin „Überarbeitete Neuausgabe“ stellt sich nun als Kürzung um etwa 15% heraus, die – das nehme ich vorweg – das Buch meines Erachtens nicht besser macht. Wo sind all die Wörter nun geblieben? Exemplarisch sei das an zwei typischen Textstellen gezeigt:
Im Original heisst es am Anfang des siebten Kapitels (Mariner, Seite 77) in einem Dialog:

He lives on the lot, I understand. The lots move around; it's a nomadic existence. I'm sure you've heard.

Bei Knaur liest man auf Seite 67:

Soweit ich weiß, lebt er auf der Verkaufsplattform. Sie ist mobil; er führt also ein Nomadenleben. Sie haben sicher schon davon gehört.

Und bei Heyne auf Seite 97:
Soweit ich weiß, lebt er auf der Verkaufsplattform. Sie ist mobil – Sie haben sicher schon davon gehört.
Die Bemerkung zum „Nomadenleben“ ist eine (negative) Wertung des Sprechers und sie wegzulassen schadet dem Text.
Zum zweiten Beispiel: Etwas weiter liest man (Mariner, Seite 79):
Raising his hand he knocked.
The door opened. There stood Chic, in his blue dressing gown, a magazine in one hand. He looked a little older, more tired and bald and depressed, than usual.

Anton übersetzt das bei Knaur (Seite 69):

Er hob die Hand und klopfte.
Die Tür glitt zurück, und Chic stand vor ihm, in seinem blauen Bademantel, ein Magazin in einer Hand. Er sah ein wenig älter, müder, kahlköpfiger und bedrückter als sonst aus.

Und Martin überarbeitet das bei Heyne (Seite 99) so:

Er klopfte.
Die Tür öffnete sich, und Chic stand vor ihm, in seinem blauen Bademantel, eine Zeitschrift in der Hand. Er sah etwas älter, müder und bedrückter aus als sonst.
Auch hier ist mit „kahlköpfig“ der Kürzung ein wertvolles Adjektiv zum Opfer gefallen. Ob oder wie sehr die fehlenden „Hand“ den Text beeinträchtigt, liegt sicher im Auge des Lesers.
Dick war kein grosser Stilist, seine Sprache ist eher einfach (weshalb er sich im Original auch für den Nichtmuttersprachler gut lesen lässt). Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – sollte die Übersetzung dem Text nicht noch weiter vereinfachen und verkürzen. Ich kann keine literaturwissenschaftliche Bewertung der Qualität der beiden Übersetzungen abgeben, persönlich halte ich die ursprüngliche Übersetzung aber für (klar) besser.
Und hier noch ein paar ergänzende Links zu diesem Thema hier im Blog:
Simulacra bei Knaur
Die ersten Heftromane bei Semrau
Heftig gekürzte Terra Heftromane bei Moewig
Im Allgemeinen sind die Ausgaben aus Heynes Philip K. Dick Edition die besten, die Überarbeitung der teilweise recht alten Texte ist durchaus positiv und die „Zugaben“ in Form von (hochwertigen) Vor- und Nachworten sind substanziell. Simulacra jedoch ist arg gekürzt und meines Erachtens damit nicht besser geworden, man greife hier besser zur alten Knaur-Ausgabe, wenn nicht am besten gleich zum englischen Original. Spinrads kurzes Essay kann man dann bei Heyne nachlesen … ein Grund mehr alle Ausgaben in seinem Schrank zu versammeln.

Appendix: Statistik

Als Stichprobe für die Messung des Umfangs der Kürzungen wurde (nur) das siebte Kapitel gewählt. Für den englischen Text wurde die Ausgabe von Mariner (2011) verwendet, unter der Annahme, dass es für diese Ausgabe keine (relevanten) Änderungen am Text gab. Die Angaben der Wortanzahl sind bestmöglich, leichte Abweichungen sind wahrscheinlich.
Für das Buch findet man:
  • Mariner: 230 Seiten Text
  • Knaur: 186 Seiten Text
  • Heyne: 252 Seiten Text (ohne Nachwort)
Es ergibt sich für das siebte Kapitel:
  • Mariner: etwas mehr als 14 Textseiten, 6,1% vom Gesamtumfang
  • Knaur: Seite 67–78, 12 Seiten, ca. 4.500 Worte, damit 375 Wörter pro Seite; 6,5% vom Gesamtumfang, 
  • Heyne: Seite 97–112, 16 Seiten (jedoch am Kapitelanfang und Ende nicht vollständig ausgefüllt), ca. 3.740 Worte, damit 240 Wörter pro Seite; 6,3% vom Gesamtumfang
Das betrachtete Kapitel scheint also typisch zu sein, es macht jeweils rund 6% des Gesamtumfangs des Buches aus. Heyne hat mehr Seiten, ist aber grosszügiger im Layout und hat trotzdem insgesamt weniger Text.

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