Samstag, 15. April 2023

Nicht nach Drehbuch

Ein sehr wenig beachtetes Werk von Philip K. Dick ist sein Drehbuch zum Roman Ubik. Auf Deutsch ist es unselbstständig veröffentlicht, als Anhang des Romans in der Ausgabe der Philip K. Dick Edition von Heyne (2003). Der Text ist eine Zugabe, mit der uns die Edition regelmässig beschenkt hat, so wie das Vorwort von Sascha Mamczak, in dem er auch kurz auf das Drehbuch eingeht.
Ubik: The Screenplay, englische
Erstausgabe, Corroboree (1985)
Immerhin gibt es eine deutsche Ausgabe. Übersetzt ist Dicks Screenplay sonst nur in drei weitere Sprachen. Zuerst 1998 auf Italienisch mit zumindest einer weiteren Ausgabe im folgenden Jahr. Dann auf Japanisch (2003) und – natürlich – auf (in zwei Ausgaben) Französisch; diese beiden Ausgaben sind erst nach der deutschen erschienen, 2006 und 2014 und das ist bemerkenswert, weil es doch eine sehr direkte französische Beziehung gibt.
Vom englischen Original gibt es, abhängig davon wie man zählt, drei Ausgaben. Die Erstausgabe ist 1985 posthum bei Corroboree, einem kurzlebigen Klein(st)verlag aus Minneapolis erschienen. Ganz offenbar geschah das mit Unterstützung von Paul Williams, der auch eine Einführung beigesteuert hat, zusätzlich zu einem Vorwort von Dicks Freund Tim Powers. Williams war zu dieser Zeit Dicks literary executor und hat einige Werke von Dick veröffentlicht, so die Collected Stories.
Bei Corroboree gibt es neben der normalen Trade Edition von 1.200 Exemplaren eine „signierte“ und auf 50 Exemplare limitierte Luxusausgabe mit eingeklebten Signaturen von alten Schecks, die vermutlich nur durch Williams erhältlich waren. Die Ausgabe ist auch sonst aufwändig gestaltet, u. a. mit vier eingeklebten Farbdrucken.
Erst 2008 folgte eine weitere englische Ausgabe, wieder von einem kleineren Verlag, Subterranean, von dem wir hier im Blog schon die Complete Stories gesehen haben. 1.500 Stück der gebundenen Trade Edition gibt es, dazu 26 Exemplare lettered (für ursprünglich 150 Dollar; heute sind sie … viel teurer). Enthalten ist hier das Vorwort von Powers, leider fehlt das Vorwort von Paul Williams, dafür gibt es ein Nachwort vom Science Fiction Schriftsteller Tad Williams.
Erst 2012 kommt in der Gesamtausgabe von Mariner eine günstige Taschenbuchausgabe, ebenfalls mit Vorwort von Powers und Nachwort von Tad Williams. Diese Ausgabe kann man auch derzeit noch problemlos erwerben.
Die einzige deutsche Ausgabe und die letzte Ausgabe von Dicks Drehbuch zu Ubik
Es gibt zahlreiche, im Kern übereinstimmende aber in den Details beliebig abweichende Schilderungen darüber, wie es zu diesem Werk gekommen ist. Der französische Regisseur Jean-Pierre Gorin wollte Ubik verfilmen und trat mit Dick in Verbindung. Er hat sich dann im September 1974 mit Dick getroffen. Man hat einen Tag bei Dick in Fullerton miteinander verbracht, der Gorin die Rechte für eine Verfilmung auf Basis eines Drehbuchs gab, das Dick in den nächsten drei (oder sechs) Monaten (wohl gemeinsam mit Gorin) schreiben sollte. Dick war begeistert und beendete das Drehbuch innerhalb von drei Wochen, alleine. Gorin konnte Dick (zumindest zunächst) nicht bezahlen und schaffte es letztlich auch nicht, eine Finanzierung für das Projekt zu finden. Das Drehbuch blieb unverfilmt – bis heute, vermutlich aber überhaupt, da Dick kein Drehbuchautor war und es offenbar kaum verfilmbar ist.
Im Jahr 2011 in einem Gespräch für die Filmzeitschrift Cargo spricht Jean-Pierre Gorin auch über Ubik und Dick, man kann sich das Video ansehen, hier der Versuch einer (nicht immer ganz wörtlichen) Transkription der Passage über Ubik:
There are two tribes: idiom and grammar; in the 1920s and 30s and 60s, people of the grammar were ruling the earth. [Jean-Luc] Goddard was on both sides. But for a long time the people of the idiom are ruling the earth.
I flirted once with the people of the idiom when I worked with Coppola, about making a Philip K. Dick movie. I proposed it to all those people, they [had] never read him, nobody wanted to give me the time of day. That was way before Blade Runner, nobody had heard of the guy.
I went to see him next to Disneyland. He was surrounded by girls who looked like graduates from Charles Manson School of Good Manners. We had a whole day in which we talked about Elizabethan poetry, which I know two or three things about and he did, too.
I left with a signature of a contract in which we said that I would come back and work together on the script and one day later in Berkeley I got a phone call from Philip saying you're gonna love it, I finished the script. I said to myself to say My God, I was not naive enough to not think I walked into a casino and put my last dollar on number six and lost
I effectively received the script in a kind of a brown paper bag. I called back Philip and said this is great, this film will last 300 hours, but then I was faced with the fact that I needed to find money to pay him. Nobody was interested, so the script got published as a kind of novel. 
Now Dick has become a currency people are interested in and Michel Gondry decided he wanted to do Ubik.
Ubik is not one of the most radical books by Dick. It is a great book, a lot of people call me. It is part of the book that I should be doing which is All the Films I Didn't Make.
Dick would have been interesting.
Gorin erwähnt Jean-Luc Goddard, mit dem er in den Jahren vor dem Treffen mit Dick intensiv und sehr politisch zusammengearbeitet hatte, eine Tatsache, die keine Biographie von Gorin auslässt. Mit idiom spielt er auf ein kommerzielleres, zumindest weniger formales Filmemachen an, das er sich für Ubik wohl vorgestellt hat.  
Von Dicks Apartment in der 3028 Quartz Lane in Fullerton waren es 15 Minuten bis zum erwähnten Disneyland. Den one day later sollte man nicht wörtlich nehmen, so schnell war auch Dick nicht, nicht mal mit Amphetaminen. Es waren wohl drei Wochen. An anderer Stelle wird neben Francis Ford Coppola auch George Lucas als möglicher Unterstützer des Projekts genannt – phantastische Aussichten. Man muss verstehen, dass eine Mehrzahl von Filmideen in dieser frühen Phase sterben, das ist Teil der Filmgeschäfts. Gorin hatte sich womöglich grosse Hoffnungen gemacht, er hatte ja auch Verbindungen nach Hollywood, aber wirklich überraschen darf der negative Verlauf nicht.
Liest man darüber, so werden ihm aus der Filmbranche keine Vorwürfe gemacht, aus Dicks Fandom schon. Dick selbst gibt Gondry im Interview mit Mike Hodel keine Schuld daran, dass es nicht zu dem Projekt kam. Gorin konnte auch keinen Film versprechen, er konnte es nur versuchen. Und bezahlt hat er das Drehbuch wohl – mit gewisser Verzögerung – trotzdem.
Anzumerken ist noch, dass Gorin das etwas ausgefallene Gesprächsthema elisabethanische Lyrik erwähnt. Dicks Interesse daran ist mit dem Romantitel Flow My Tears, the Policeman Said überliefert, einer Anspielung auf ein Gedicht des Lyrikers John Dowland.
Gorin erwähnt nirgendwo den Pink Beam, dessen Auslöser nur wenige Monate zurückliegt und Dick für den Rest seines Lebens beschäftigt – und der sich auch sonst überall niederschlägt. Hat Dick das Gorin nicht zumuten wollen? Hat Gorin, der Marxist, der Metaphysisches vollständig ablehnen muss, davon nichts hören wollen – oder berichtet er nur nicht davon? Und ist sich Dick Gorins politischer Anschauungen überhaupt bewusst? In einem Brief vom 2. September 1974 schwärzt Dick nämlich Peter Fitting, Franz Rottensteiner and Darko Suvin beim FBI als potentielle kommunistische Befehlsempfänger an, abgeschwächt mit not that these persons are Marxists per se. Währenddessen korrespondiert er und verbringt einen Tag mit dem bekennenden Marxisten Gorin. Dieser soll seine Träume wahr werden (oder zumindest Geld sprudeln) lassen und wir daher verschont - oder eben aus Unkenntnis.
Zumindest einen weiteren Versuch einer Verfilmung von Ubik hat es 2011 durch den ebenfalls französischen Regisseur Michel Gondry gegeben, der sich damals gerade am Hollywood Blockbuster The Green Hornet bewiesen hatte. Auch das hätte ich sehen wollen. Vor Gondry war auch David Cronenberg als Regisseur im Gespräch ... das hätte ich noch lieber sehen wollen. (Alternativ kann man sich Cronenbergs eXistenZ ansehen, das einige Bezüge zu Dick, speziell zu Die drei Stigmata des Palmer Eldritch enthält ... und darüber hinaus immer noch ein guter Film ist.)

Poto und Cabengo und Jean-Pierre

Jean-Pierre Gorin wird am kommenden Montag, den 17. April, 80 Jahre alt. Deshalb sei ein Exkurs zu seinem Leben und Werk erlaubt, speziell zu seinem Film Poto und Cabengo. Wir erleben hier Gorin selbst, als Detektiv, einen comic Philip Marlowe nennt Senses of Cinema das in einem schönen Text über Gorin.
Im Sommer 1979 begleitet Gorin für seinen Dokumentarfilm in San Diego ein Zwillingspaar. Die Kinder hatten mutmasslich eine eigene Sprache erfunden und es gab in den USA und darüber hinaus sehr viel Berichterstattung dazu. Gorin versucht den Hintergrund für das Verhalten der Zwillinge in ihrem Umfeld zu ergründen.
Der Film wurde mit dem deutschen ZDF produziert, Gorin erklärt in einem Interview mit Lynne Tillman (Bomb # 23, 1988), wie es dazu kam:
The very day I saw the first article on the twins, Eckardt Stein from ZDF was passing through town and I sold him the idea of a film. I lied through my teeth, told him that I had seen the twins, seen the therapists who took care of them at Children’s Hospital, secured the rights to the story. I assured Stein that they spoke a “private language.” He agreed to do the film.
So realisiert man seine Projekte! Der Interessierte findet den Film im Internet Archive.

Seit Januar steht in der ARTE Mediathek eine (kurze) Dokumentation zu Ubik zur Verfügung, noch bis Januar 2025! Unbeding ansehen!

Herzlichen Glückwunsch zum 80. Geburtstag, Jean-Pierre Gordin!

Das Kleingedruckte

Hier folgen noch einige Details, die bei der Recherche aufgefallen sind und die hier festgehalten sein sollen.
Zur Ausgabe von Corroboree finden sich (derzeit) einige sehr verwirrende Angaben bei ISFDB bzgl. Auflagenhöhen und einer bound in paper Ausgabe, für die es sonst keinerlei Hinweise gibt. Da ISFDB sonst sehr zuverlässig ist, sei das hier erwähnt, auch wenn die Angaben dort in diesem Fall vermutlich falsch sind.
Über die elf Ausgaben hinaus, die von 1982 bis 1986 bei ISFDB für diesen Verlag gelisteten sind, finden sich keine weiteren, der Verlag ist sonst spurlos verschwunden.
In den Selected Letters findet sich kein Brief an Gorin.

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