Samstag, 8. Oktober 2022

Verboten!

Am Rand der Sammlung bewegt sich auch dieser Blogeintrag. Immerhin geht es um einen deutschen Beitrag – oder eigentlich sogar zwei – aber nichts von Philip K. Dick und eigentlich auch nichts über ihn … nur ein wenig mit ihm: Der Science Fiction Roman Kind des Glücks öffnet mit der Widmung Für Philip K. Dick. Geschrieben hat ihn Dicks Freund Norman Spinrad, veröffentlicht wurde er im Jahr 1985 bei Bantam. Die Widmung ist gefolgt von einem Vers:
Für Philip K. Dick 
Manche stehen auf den Schultern von Giganten
manche lugen einem Freund durchs Herz
manche Leben sind Geschichten
deren Geist und Atem nie vergeht
Diese weiteren Zeilen deuten die grosse Verbundenheit an, die Spinrad für Dick empfunden haben muss.
Die deutsche Übersetzung ist von Jürgen Langonski mit dem Titel Kind des Glücks, erschienen 1988 bei Bastei Lübbe. Bemerkenswert an dieser broschierten Erstausgabe ist der Preis von 24,80 DM. 493 Seiten haben ihren Preis, das Buch ist grösser als Standardtaschenbücher, aber der Preis erscheint doch sehr hoch. Die typischen Heyne Taschenbücher kosteten seinerzeit um 8 DM. Die zweite Ausgabe von 1991 kostete dann auch nur noch die Hälfte, 12,80 DM.
Norman Spinrad: Kind des Glücks, Batstei Lübbe
Beide Ausgaben enthalten die Widmung, die bei anderen Büchern bei der Übersetzung frustrierenderweise auch mal verloren geht, man darf sie also der Sammlung zuführen. 
Seine Beziehung zu Dick beschreibt Spinrad im Nachwort zur deutschen Ausgabe von Simulacra, Heyne (2005). Dieses Nachwort ist scheinbar von Spinrad für diese Ausgabe geschrieben, der Text ist sonst wohl nirgendwo erschienen. Inhaltlich ergänzt es Äusserungen von Dick und Spinrad zu ihrer Freundschaft. Spinrad arbeitete am Anfang seiner Karriere zeitweise bei Dicks Agenten, der Scott Meredith Literary Agency und war schon damals Fan von Dick, traf ihn dort aber nicht persönlich. Erst bei Dicks schwerer persönlicher Krise 1971 rief dieser Spinrad an und es entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. In den Selected Letters 197273 finden sich zwei Briefe: der erste vom 18.2.73 kommentiert und lobt Spinrads aktuellen Roman, Der stählerne Traum und bezieht ihn direkt auf Das Orakel vom Berge. Interessant sind in diesem Brief auch Dicks Äusserungen zu Deutschland – er „traut“ den deutschen Verlegern nicht, befürchtet, dass seine politischen Äusserungen in Deutschland herausgenommen oder verändert werden. Für die Erstausgabe vom Orakel vom Berge in Deutschland beim König Verlag lässst er sich daher die Druckfahnen schicken. Ob Dicks zweifellos vorhandene Deutschkenntnisse für solche Kontrollarbeit gut genug waren oder ob Dick hier nicht (auch) ein wenig für sein Publikum gespielt hat, kann ich nicht beurteilen. In jedem Fall ein relevanter Beitrag zum Thema Dick und Deutschland. Ein weiterer Brief findet sich in den Letters, vom 5.3.73, hier geht es um ein Interview mit der BBC.
Spinrads Nachwort beschäftigt sich natürlich auch mit Dicks Roman. Spinrad ist ein politischer Schriftsteller und greift daher die politischen Aspekte des Romans besonders auf:
Etliche Jahre vor der Präsidentschaft Ronald Reagans und der politischen Karriere Arnold Schwarzeneggers beschreibt Dick einen Präsidenten, der in Wahrheit ein Simulacrum ist, eine First Lady, die von einer Gruppe von Schauspielerinnen gedoubelt wird, und eine Fernsehserie, die das Weiße Haus zur Showbühne macht. Wir sehen alles – und doch sehen wir nichts.
Dieser Text ist von 2005, Spinrads Meinung zu aktuelleren politischen Ereignissen (und Präsidenten) lässt sich gut im Titel eines von ihm geschriebenen Liedes zusammenfassen: Donald Trump, Agent of Satan, hier von ihm gesungen zu hören auf YouTube.
Weiterhin gibt es von Spinrad einige Vor- und Nachworte zu Büchern von Dick, Dr. Bloodmoney bei Gregg Press und Band 2 der Collected Short Stories sowie diverse Essays.
Eine deutsche Übersetzung hat nur Spinrads sehr persönliches Essay über Dicks Werk, The Transmogrification of Philip K. Dick, geschafft, ursprünglich erschienen in Science Fiction and the Real World (1990), seiner sehr lesenswerten literarischen Kritik am gesamten Genre. Auf Deutsch ist die beim mittlerweile untergegangenen (und wohl unter neuem Namen auferstandenem) Verlag Shayol in der 4. Ausgabe des Magazins Pandora (2009) unter dem Titel Die Verwandlung des Philip K. Dick; das Heft enthält zwei weitere Artikel über Dick, gehört also in jede Sammlung. Dicks „metaphysischen“ Werke, wie Valis und die Exegese, kommen bei Spinrad nicht so gut weg – eine Einstellung, die man teilen kann, die aber der Person Dick nicht gerecht wird.
1983 ist Spinrad Preisrichter der ersten Vergabe der – in diesem Blogs (bisher) weitgehend ignorierten – Philip K. Dick Awards, gemeinsam mit Ursula K. LeGuin und dem Organisator Thomas M. Disch. 2012 ist er einer der Hauptredner bei der Philip K. Dick Konferenz in Dortmund. Auch wenn es nicht sehr viel von Spinrad zu Dick gibt, so kann man doch die tiefe Verbindung von ihm zu Dick sehen.
Nicht mehr indiziert! Die dritte Auflage von "Der stählerne Traum"
Norman Spinrads grösster Aufmerksamkeitserfolg“
in Deutschland, hier die dritte Auflage von 1985
mit der entschärften Version des 
Umschlagbilds von Rowena Morrill
In Deutschland hatte Spinrad wohl die grösste Aufmerksamkeit im Rahmen der Indizierung seines Romans Der stählerne Traum von 1972. In gewisser Hinsicht handelt es sich um die Umkehrung von Dicks Das Orakels vom Berge: In dieser Alternativwelt haben die Nazis nicht den Krieg gewonnen, sondern Hitler wird erfolgreicher und geehrter Science Fiction Schriftsteller in den USA. Spinrad will damit faschistische Tendenzen in der Science Fiction Literatur satirisch angreifen, wird aber von niedersächsischen Kultusminister Werner Remmers missverstanden, der das Buch nach dem Erscheinen in Deutschland 1982 indizieren lässt. Remmers tut das sicher in guter Absicht, muss sich aber groben Unverstand vorwerfen lassen: Spinrad ist ein (für amerikanische Verhältnisse) linksintellektueller Jude und seine Absicht kann auch dem unaufmerksamen Leser des Buches nicht verborgen bleiben, allerspätestens wenn man denn auch das letzte Kapitel liest. Nun ja, ohne Google und mit wenig Zeit kann das passieren, vermutlich hat man als Kultusminister Wichtigeres zu lesen. Auch die Amerikanische Nazi Partei hat das Buch (irrtümlich, darf man annehmen) auf ihrer Empfehlungsliste, Remmers ist also in (schlechtester) Gesellschaft.
Erst 1987 kämpft Heyne das Buch beim Bundesverwaltungsgericht endgültig frei. Übrigens schreibt auch Dietmar Dath, der Philip K. Dick bekanntlich sehr schätzt, zu Spinrad: Dort findet man über Das Kind des Glücks: „Sein Weltraum-Unterwäsche-Simplizissimus-Pastiche 'Kind des Glücks' ist kaum vorsichtiger durchferkelt“. Das sollte Leseempfehlung genug sein.
Fragen mag man sich nur, warum Spinrad ausgerechnet Das Kind des Glücks seinem Freund gewidmet hat, bei dem ich keinen inhaltlichen Zusammenhang zu Dick sehen kann. Aber natürlich liegt das gänzlich beim Autor und die Zeit dafür war für Spinrad offenbar gekommen. Besser gepasst hätte die Widmung aber zum stählernen Traum, aber natürlich war das lange vorher.
Die Frage, ob man dieses Buch, möglicherweise wie hier gezeigt sogar in unterschiedlichen Ausgaben, in der Sammlung braucht, beantwortet sich wie immer: Das ist die Entscheidung des Sammlers, aber es gibt wenig genug deutsche Stücke und die Lagerkosten sind höher als die Anschaffungskosten, denn beide deutsche Ausgaben (wie auch die englischen) sind billig und einfach zu finden. Kanonisch ist es für die Kernsammlung zu Philip K. Dick nicht, so sei es hier entschieden.
Übrigens findet sich auch Der stählerne Traum in der Erstausgabe von 1981 einfach und bezahlbar, die Indizierung hat den antiquarischen Wert nicht erheblich erhöht, es gibt hier aber offenbar diverse Varianten und Auflagen: Eine spätere (4.?) Auflage protzt auf der Rückseite mit dem Text „Nach 5 Jahren wieder frei! Bundesverwaltungsgericht: Spinrads Hitler-Satire zu Unrecht indiziert!“. Insgesamt ist das Werk von Norman Spinrad ein lohnendes, aber im Deutschen mit zwei Dutzend veröffentlichten Romanen durchaus überschaubares Sammelgebiet und sei dem interessierten Leser dieses Blogs hier angedient.
Das Kind des Glücks und andere Bücher mit Widmung an Philip K. Dick finden sich auf der Seite der Kuriosa hier im Blog, ebenso gibt es einen Artikel über die deutschen Widmungen von Philip K. Dick.

Preise

Norman Spinrad: "Kind des Glücks", Bastei Lübbe. 1988/1991, beide Ausgaben ab 3 Euro überall wo es Antiquarisches gibt

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