Samstag, 19. November 2022

Lost in Translation (2): Wyatt Earp

Dieser Blogeintrag ist etwas länger geworden. Aber ich verspreche Kurzweil, es gibt Cowboys und Nazis, die aufeinander schiessen. Und die Länge ist überwiegend den ausführlichen, aber lohnenden Zitaten geschuldet.
Es geht noch einmal um Übersetzungen, nach Ubik hier nun über Philip K. Dicks Meinung zur Übersetzung von The Man in the High Castle ins Deutsche.
The Man in the High Castle von Vintage und auf Deutsch von König und neu übersetzt von Heyne
Für seine Radiosendung 25th Hour hat Mike Hodel drei Stunden mit Dick gesprochen. Das Interview wurde im Sommer 1976 auf 75 Minuten gekürzt gesendet. Die Sendung lässt sich (u. a.) beim Internet Archive anhören.
Zur Übersetzung von The Man in the High Castle sagt Dick in dem Interview:
They didn't know that I could read German. A publisher bought it in Germany and began to translate it, and when I learned that they'd bought it, I said, Oh, no, you're not going to put that book out in Germany without letting me see the German translation. I said, Listen, Scott, we're not going to let them publish that book lest I read the galleys. It's gotta be sine qua non. It's gotta be a condition. Well, they didn't have galleys. They just had the typescript, so they had to send that to us. When I started reading that thing, I could see that they had destroyed the book. They'd turned it into a travesty of itself. I actually burst into tears when I finished reading it. Here was my best novel, right, and they said, We didn't know you could read German. They actually said that in their letter. They gave me five days to read it, and my German got very fluent. I stayed up night and day with my Cassell's German-English Dictionary and I read every single word, comparing the German line by line with the English. They hadn't changed any of the political parts – all the anti-Nazi stuff was still there. They'd just turned it into a cheap adventure novel. I remember one part where it read: Tagomi stolzierte einher wie Wyatt Earp." Now, I never mentioned Wyatt Earp in my book. Tagomi swaggered like Wyatt Earp"! Tagomi swaggered like Vyatt Oorp"!
Das Interview findet sich so abgedruckt in der Literaturzeitschrift Missouri Review 7:2 (Winter 1984), im Internet ist es hier vollständig nachzulesen. Eine deutsche Übersetzung ist nicht veröffentlicht. Hört man sich das Interview im Internet Archive an, findet sich das Zitat im 3. Teil Editors and Translations ab Minute 7:25. Beim Hören ergibt sich allerdings eine gewisse Abweichung vom Transkript. Ich höre (ab Minute 9:10):
I remember one part says: Und Tagomi nannte sein Schiessgewehr wie Wyatt Earp.” I never mentioned Wyatt Earp in my book anywhere. Und in Germany Mr. Tagomi is like Wyatt Earp. Isn't that dreadful. The whole thing was that way.
Dick sagt an dieser Stelle definitiv nicht „Tagomi stolziert einher wie Wyatt Earp“ wie abgedruckt, sondern – so verstehe ich es – „Und Tagomi nannte sein Schiessgewehr wie Wyatt Earp“. Das ergibt keinen Sinn und ist ein Fehler von Dick, er mag „benutzte sein Schiessgewehr“ gemeint haben. Aber Dick spricht definitiv nicht vom Stolzieren und sagt im Interview auch nicht den folgenden Satz „Tagomi swaggered like Wyatt Earp“, der den vorher verwendeten deutschen Begriff „Stolzieren“ dem amerikanischen Hörer erklären würde. Man hat also nicht nur falsch transkribiert, sondern auch ein paar Lücken gefüllt oder wollte Dicks Fehler korrigieren.
Festzuhalten ist, dass Dick sich gut an ein Problem mit dieser Textstelle erinnert, seine Erinnerung an die Details des deutschen Textes aber drei Jahre später etwas lückenhaft ist. Das ist verzeihlich und spielt inhaltlich keine Rolle.
Werfen wir nun einen Blick auf Dicks Originaltext. Die Situation: Der Protagonist Mr. Tagomi wird in seinem Büro in der japanischen Handelsmission von deutschen Nazi-Agenten angegriffen:
“Da ist er,” one said. They started for Mr. Baynes. 
At his desk, Mr. Tagomi pointed his Colt .44 ancient collector's item and compressed the trigger. One of the SD men fell to the floor. The other whipped his silencer-equipped gun toward Mr. Tagomi and returned fire. Mr. Tagomi heard no report, saw only a tiny wisp of smoke from the the whistle of a slug passing near. With record-eclipsing speed he fanned the hammer of the single-action Colt, firing it again gun, heard and again. The SD man's jaw burst. Bits of bone, flesh, shreds of tooth, flew in the air. Hit in the mouth, Mr. Tagomi realized. Dreadful spot, especially if ball ascending. The jawless SD man's eyes still contained life, of a kind. He still perceives me, Mr. Tagomi thought. Then the eyes lost their luster and the SD man collapsed, dropping his gun and making unhuman gargling noises.
In Heinz Nagels Übersetzung für die Erstausgabe Das Orakel vom Berge beim König Verlag von 1973 liest man:
»Das ist er«, sagte einer. Sie gingen auf Mr. Baynes los.
Und Mr. Tagomi richtete seinen .44 Colt – Sammlerstück – auf einen der SD-Männer und drückte ab. Der Mann fiel zu Boden. Der andere richtete seine Waffe auf Mr. Tagomi und erwiderte das Feuer. Mr. Tagomi hörte den Abschuß nicht, sah nur eine winzige Rauchwolke, hörte das Pfeifen einer Kugel. Und mit der Geschicklichkeit eines Wyatt Earp riß er den Colt herum und drückte schnell hintereinander ab. Immer wieder.
Der Kopf des SD-Mannes platzte. Knochenstücke, Fleisch, Zahnsplitter flogen herum. In den Mund getroffen, erkannte Mr. Tagomi. Ein schrecklicher Schuß, insbesondere, wenn die Kugel von unten kam. In den Augen des kinnlosen SD-Mannes war noch Leben, eine Art von Leben. Er sieht mich immer noch, dachte Mr. Tagomi. Dann verloren die Augen ihren Glanz, und der SD-Mann brach zusammen, liess die Waffe fallen uns stiess unmenschliche gurgelnde Geräusche aus.
Ja, da(s) ist er. Wyatt Earp, der Revolverheld, Sheriff und Legende des Wilden Westen (gestorben übrigens wenige Wochen nach Dicks Geburt). Über diese Übersetzung kann man sicher streiten, aber nicht mit dem Autoren des Werkes. Und Dick scheint es nicht gefallen zu haben. Nagel hatte im Vorjahr (1972) für Heyne die Übersetzung für Edwin Booths Western Der Mann von Dakota geliefert, das mag sich hier niedergeschlagen haben.
Liest man die Szene, fallen mir zwei andere Schwächen in der Übersetzung auf. „Da ist er” steht im englischen Originaltext auf Deutsch, die Angreifer sind ja (mutmasslich) Deutsche; in der Übersetzung hätte es daher, wie ich finde, „Da(s) ist er,“ sagte einer auf Deutsch heissen müssen. Dicks Absicht hier die Täter ganz deutlich als Deutsche zu identifizieren, fehlt sonst in der Übersetzung. Warum sich das „Da“ in ein „Das“ gewandelt hat, ist auch unklar, besser wird der Text damit nicht, viel schlechter aber auch nicht.
Ein zweiter Satz ist „Der Kopf des SD-Mannes platzte.“ Im Original ist es der „jaw“, also der „Kiefer“, der platzt – und das macht meiner Erachtens einen grossen Unterschied. Tagomi, aus dessen Sicht die Szene geschrieben ist, beobachtet offenbar sehr präzise, was seine Schüsse anrichten, „Kiefer“ beschreibt die genaue Stelle des Kopfes, an der der Treffer erfolgt. Tagomi ist das Töten nicht gewöhnt und erleidet deshalb später einen heftigen Zusammenbruch. Dick legt das hier schon an, indem er uns mitteilt, dass Tagomi die grauenhaften Folgen seines Handelns genau wahrnimmt. Darüber hinaus ergibt die Erwähnung des „kinnlosen“ SD-Manns im folgenden Satz weniger Sinn ohne den vorher explodierten Kiefer.
Die etwas ungeschickte Einfügung von Sammlerstück und das Fehlen des silencer kann man leichter verwinden.

Ein zweiter Versuch

Für die Jubiläums-Edition 40 Jahre Heyne Science Fiction von 2000 hat Norbert Stöbe eine ungekürzte Neuübersetzung von The Man in the High Castle erstellt, die für die folgenden Ausgaben in der Philip K. Dick Edition bei Heyne (2008) und die diversen Fischer Ausgaben (2014, und zweimal 2017) verwendet wird. Dort liest man:
»Das ist er«, sagte der eine. Er machte Anstalten, sich auf Baynes zu stürzen.
Tagomi zielte mit seinem alten vierundvierziger Colt und drückte ab. Einer der SD-Männer brach zusammen. Der andere riss seine Schalldämpferpistole herum und erwiderte das Feuer. Tagomi vernahm keinen Knall, sondern sah bloß ein winziges Qualmwölkchen von der Waffe aufsteigen, während gleichzeitig eine Kugel an ihm vorbeipfiff. Mit rekordverdächtiger Geschwindigkeit feuerte er Schuss um Schuss ab.
Der Kiefer des Mannes explodierte. Knochenstücke, Fleischfetzen, Zahnsplitter flogen durch die Luft. Ein Treffer in den Mund, stellte Tagomi fest. Eine böse Stelle, zumal wenn schräg nach oben geschossen wurde. In den Augen des kieferlosen SD-Mannes zeigte sich noch immer Leben. Dann wurde sein Blick stumpf, er brach zusammen, ließ die Waffe fallen und gab eine Art Gurgeln von sich.
Wyatt Earp ist bei Stöbe verschwunden. Selbst ohne Kenntnis von Dicks Kritik würde man eine entsprechende Formulierung wohl nicht noch einmal verwenden (wenn man nicht gerade vorher einen Western übersetzt hat). Und Stöbe entscheidet sich auch für eine präzise Übersetzung des jaw als Kiefer.
Fehlen tut nur der Hinweis auf die deutsche Sprache im ersten Satz und auch er wählt „Das ist er“ als Übersetzung von „Da ist er“. Ich denke, da hätte die Übersetzung besser sein können.
Ein paar weitere Kleinigkeiten gibt es noch bei Stöbe: Auf den Bezug zum Sammlerstück verzichtet er ganz, er schreibt einfach „alt“, was die Tatsache ausser acht lässt, das es in diesem Buch auf vielen Seiten um das Sammeln derartiger Artefakte gibt. Dafür hat er den Schalldämpfer in seiner Übersetzung. Relevanter ist vielleicht die ungeschickte Übersetzung der „unhuman gargling noises“ als „eine Art Gurgeln“. Mir fehlt das bei Nagel vorhandene „unmenschlich“, weil Dick hier Tagomis Eindrücke beschreibt: Zu den grauenhaften Bildern von zerberstenden Knochen und herumspritzenden Fleischstücken kommen noch die unmenschliche Geräusche des Getroffenen.

Keine Kleinlichkeiten

Man kann sich nun fragen, warum Dick sich so mit der deutschen Übersetzung beschäftigt. 
Dicks Interesse an speziell dieser Übersetzung hat mehrere Gründe. The Man in the High Castle ist sein preisgekröntes Meisterstück auf das er sehr stolz ist, dem Autor ist eine gute Übersetzung daher wichtig. Es sind die 70er Jahre, Dick geht es besser, er hat die Zeit sich damit zu beschäftigen. Und seine Erfolge und die Anerkennung, die er von Kollegen erhält, stärkt sein Selbstbewusstsein, so dass er für seine Werke eine gute Behandlung, inklusive Übersetzung, verlangen kann – als junger Pulp-Autor der 50er hätte er das sicher nicht getan (und auch nicht als hungernder Schnellschreiber der 60er).
Noch relevanter ist aber, dass Dick anfänglich fürchtet, dass die deutsche Übersetzung manipuliert wird, dass die politischen Teile entfernt werden. Eine Besorgnis, die man durchaus verstehen kann, die sich dann aber nach seiner Erkenntnis, der man unbedingt zustimmen kann, nicht realisiert hat: „They hadn't changed any of the political parts – all the anti-Nazi stuff was still there.“
Dicks spezielle Kritik an der Erwähnung von Wyatt Earp muss man verstehen. Zum einen wollte er wohl keinen billigen Western-Helden in seinem Meisterwerk.
Zum anderen, das ist wohl wichtiger, handelt es sich hier um eine Schlüsselszene im Roman. Für die Hauptperson ändert sich alles, Tagomi tut seine Pflicht, weil er das tun muss, weil die Pflichterfüllung für ihn und in seiner Kultur die wichtigste Tugend darstellt. Und er muss sich natürlich verteidigen, um sein Leben zu retten. Trotzdem belastet es Nobusuke Tagomi ausserordentlich schwer, so schwer, dass dieser Akt ihn buchstäblich aus der Realität wirft. Dick zeigt hier den Unterschied zwischen dem Menschen, der kaum in Selbstverteidigung töten kann im Gegensatz zum gefühllosen Androiden, den Nazis, die offenbar problemlos ganze Völker vernichten können. Man kann also verstehen, dass Dick an dieser Stelle sehr sensibel reagiert.

Übersetzer und Übersetzung

Norbert Stöbe und Heinz Nagel sind, trotz der geäusserten Kritik, wohl keine schlechten Übersetzer. Ohne die genauen Bedingungen der hier besprochenen Übersetzungen zu kennen, kann man doch sagen, dass die Arbeit nur mässig gut und üblicherweise pro Seite und nicht pro Stunde bezahlt wird. Man muss also schnell arbeiten, um sein Brot zu verdienen, so wie Philip K. Dick es die meiste Zeit auch tun musste. Und diese Schnelligkeit ist der Qualität eher abträglich, sowohl bei den Übersetzungen als auch bei einigen der Romane von Dick, die teilweise durchaus etwas Abrundungen verdient hätten.
Dick war kein grosser Stilist, seine Prosa übersteht auch weniger guter Übersetzungen. Und man kann ihn auch sehr gut im Original lesen. Interessant ist aber Dicks Rezeption der deutschen Übersetzungen und seine Äusserungen dazu allemal.

Bibliographisches

Die besprochene Textstelle findet sich zum Nachlesen
  • auf Seite 198 in The Man in the High Castle in der Ausgabe von Vintage (1992),
  • auf Seite 152 in der Erstausgabe Das Orakel vom Berge beim König Verlag (1973),
  • auf Seite 197 bei den leichter zu findenden Bastei Lübbe Ausgaben.

Ein Nachtrag

Der aufmerksame Leser wird in PKD Otaku #45 (z. B. hier zu finden) einen (eigentlich zwei) Artikel finden, der sich auf diesen Blogeintrag bezieht. Dieser Blog freut dem führenden Magazin des Fandoms beigetragen zu haben.

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