Samstag, 29. April 2023

Hoffnung, Reise ... Entropie?

Noch im vorigen Jahr hat sich eine klaffende Lücke in der Sammlung geschlossen: Die gebundene Ausgabe von Uwe Antons Entropie und Hoffnung ist tatsächlich aufgetaucht und konnte eingefangen werden. Grossartig! Zumal der Fang durchaus nicht einfach war, der Preis nicht phantastisch … und ich alle Hoffnung eigentlich schon lange aufgegeben hatte, obwohl ich neulich ein Exemplar wenigstens besuchen durfte.

Die Gelegenheit

Auf dem grossen Kleinanzeigenportal, das noch den Namen der Bucht trägt, kann man hin- und wieder einen passablen Fund machen, darum lohnt es sich für den Sammler dort regelmässig zu suchen. Und so fand sich im vergangene Spätherbst ein Konvolut von rund 60 Bänden Dick, eine (zwangsläufig) zusammengestückelte (fast) Gesamtausgabe.
Begleitet von einigen mehr- oder weniger aussagekräftigen Bildern zeigte sich dort, ganz am Rand, auch die scheueste deutsche Ausgabe aller Bücher von und über Dick: Entropie und Hoffnung, der Rücken in blau mit dem Schriftzug Philip K. Dick in silber und das Verlagslogo, ganz offensichtlich in der gebundenen Version. Der Preis: VB für das ganze Konvolut, zumindest vorzugsweise. Dieser Sammler hat schon sehr gute Erfahrungen mit Konvolutkäufen gemacht. Und dieses Konvolut enthielt zusätzlich einige Werke der Edition Phantasia – sowohl Das Mädchen als auch Valis, die sonst wohl seltensten deutschen Bücher von Dick. Das würde auch andere Interessenten bewegen, selbst solche, die an Sekundärliteratur nicht interessiert wären. Mit Konkurrenz wäre also zu rechnen.

Das Angebot

Was tun? Eine schnelle Kalkulation, ein klares Angebot (mit der Option auch nur Entropie und Hoffnung zu nehmen). Das Angebot wurde zur Kenntnis genommen, es gäbe noch andere Nachfragen (und es waren viele andere Konvolute angeboten), es wurde um Geduld gebeten. Die Nachfrage nach angemessener Frist wurde nett, aber unentschieden beantwortet, ich habe aber die Möglichkeit einer Abholung ins Spiel gebracht: Niemand mag einen Umzugskarton voller Bücher verschicken, das sollte die Erfolgschancen erhöhen – und bringt natürlich auch die Möglichkeit einer vorhergehenden Inspektion. Nach einigen weiteren Tagen der Zuschlag, etwas höher als das initiale Angebot: Ein sehr guter Preis für die Bücher zusammen, aber ein viel zu hoher für nur das eine, wirklich gesuchte Buch und ohne eine Refinanzierung durch den Weiterverkauf einiger teurer Exemplare nicht mit dem Budget vereinbar.

Die Reise

Die Fahrt in die grosse Stadt, kurzfristig organisiert, an einem sonnigen Herbsttag, eine gute Stunde. Die Wohnung, soweit erkennbar, voller Bücher. Ein paar Menschen, Freunde wohl, die sich freuen, dass die Bücher beim Abholer wohl in guten Händen sind, weil er sich auskennt. Ein paar Worte zum früheren Besitzer, ein Buchfreund, auch beruflich. Der Sammler freut sich, weil die Bücher so aussehen, wie erhofft. Schnell alles in eine Kiste … vielleicht wäre mehr Zeit zum Reden gewesen.
Entropie und Hoffnung angekommen in der Sammlung, umringt von einigen alten Freunden, links die Paperbackausgabe

Zu Hause

Der Fang ist an Land gezogen. Ein langes Durchatmen. Dann die Inspektion: Entropie und Hoffnung, der Hauptdarsteller dieses Dramas, in sehr gutem Zustand. Darin zwei Zeitungsartikel aus der F.A.Z. von 2008 und 2010, das Datum sorgfältig notiert.
Und dann ist da das Das Mädchen mit den dunklen Haaren und Auf der Suche nach VALIS, gelesen, aber gut und besser ohne die es diesen Kauf wohl nicht gegeben hätte. Sonst: die Kurzgeschichten von Haffmans, wie neu, und das übliche: Goldmann, Moewig, Bastei Lübbe, aber fast kein Heyne, es sind überwiegend frühe Ausgaben, einiges in sehr gutem Zustand, einiges offensichtlich gebrauchte Exemplare, Remittenden, Leseexemplare mit Eintragungen, Ex Libris und Stempeln. Für die Sammlung sind Eintragungen und Stempel nicht gut, interessant sind sie aber doch: Eines der Exemplare kommt aus der privaten Bücherei der Bücherfreunde Fernmeldeamt 1 Frankfurt Main. Im Netz findet sich ein Exemplar aus gleicher Quelle, sonst sind die Bücherfreunde vergessen ... oder zumindest nicht im Internet angekommen.
Ex Lib
Gestempelt Bücherfreunde Fernmeldeamt 1
Frankfurt Main
Und eine weitere Eintragung macht neugierig: In vielen der Taschenbücher ist ein Datum eingetragen, „4.12.63“ steht da beispielsweise in Moewigs Warte auf das letzte Jahr. Die deutsche Ausgabe ist von 1981, die englische Erstausgabe von Doubleday 1966 herausgebracht. Ein Blick in die Encyclopedia Dickiana bestätigt die Vermutung: Es handelt sich um genau das Datum, an dem das Buch beim Agenten eingegangen ist, das Datum, das man als Datum der Fertigstellung betrachten kann und das teilweise erheblich vom Datum der Erstveröffentlichung abweicht. Für das Verständnis von Dicks Werk – oder überhaupt eines Autoren – ist dieses Datum also sehr relevant. Diese kleine Eintragung verstärkt also den Eindruck eines tieferen Interesses am Werk. Und das ist mein Eindruck vom Vorbesitzer: Ein Interessierter, der vielleicht ein Fan war, aber kein ausgesprochener Sammler – jedes Buch war da, um gelesen zu sein, es gibt einige Leseexemplare, sauber, jedes Buch in nur einer Ausgabe. (Und auch dieser Sammler hält es mit den Strugatzkis, Vonnegut oder Bukowski so.)
Tatsächlich fehlen zwei oder drei Romane, bei den seltenen Edition Phantasia Ausgaben wundert das wenig (Nick wäre schön gewesen), aber warum fehlt ausgerechnet: Blade Runner. Das Buch mit den meisten Ausgaben, den höchsten Auflagen (behaupte ich hier mal) – und einer der besten Romane von Dick – ist nicht dabei. Das ist kein Verlust für das Konvolut, die Sammlung ist da gut ausgestattet und nur die frühen Ausgaben sind werthaltig. War der Blade Runner dem Vorbesitzer zu kommerziell, hat er ihn absichtlich ausgeschlossen? Nein, jemand, der sich offensichtlich so mit Dicks Werk auseinandergesetzt hat, würde diesen Fehler nicht machen. Vermutlich ist der Roman der Kollektion irgendwann einmal verloren gegangen, womöglich im Rahmen der Auflösung … Blade Runner ist sicher das ansprechendste Buch und mag im Vorbeigehen einen neuen Leser gefunden haben: Gut so!

Das Nachspiel

Entropie und Hoffnung wurde sofort der Sammlung zugeführt, natürlich. Alle anderen Exemplare wurden mit dem Bestand verglichen. Einige wenige schafften es vom Ersatzspieler in die Stammelf und ersetzen schlechtere Exemplare, die es in der Sammlung noch gibt, das ist auch vorher schon geschehen und findet kein Ende, weil nur die wenigsten Exemplare wirklich perfekt sind. Alle anderen boten die Möglichkeit Abweichungen zu prüfen – manchmal lässt sich eine neue Auflage entdecken oder sogar eine kleinere Variation, wie hier für Eine andere Welt.
Das Konvolut war sicher nicht zu teuer, aber es war teuer – und es war zu teuer, wenn man nur eines des Bücher wirklich braucht. Schon beim Angebot war die Hoffnung, eine gewisse Gegenfinanzierung über die Dubletten zu erreichen. VALIS fand dann auch innerhalb einer Woche ein neues Für-Immer-Zuhause, manchmal funktioniert das mit Suchanzeigen, auch wenn es (wie hier) einige Jahre dauern kann – offenbar ein hingebungsvoller Sammler.
Alles weitere wird seine Zeit brauchen, wie beim Sammeln ist auch beim Abgeben von Raritäten – oder zumindest hinlänglich wertigen Exemplaren – Geduld gefragt. Und die Standardausgaben sind kaum interessant, werden aber auch ihre Verwendung finden: als Leseexemplare oder als Geschenke für Interessierte (der eine oder andere Bekannte konnte zur Lektüre von Dick schon überzeugt werden).

Epilog

So soll Sammeln sein (: Ein bisschen Jagd, ein bisschen Abenteuer, aber auch ein bisschen soziale Interaktion – mehr als nur ein Warenkorb im Netz. Und natürlich am Wichtigsten: Ein grossartiger Fang!
In der Sammlung gibt es noch genug Lücken für weitere Sammelabenteuer dieser Art, sehen wir, was die Zukunft bringt.

Das Weitere

Hier im Blog gibt es mehr zur Sekundärliteratur über Dick und sein Werk. Über Entropie und Hoffnung kann man bei Thomas Sebestas Treffpunkt Phantastik nachlesen, dort findet sich auch sonst vieles Interessantes und Gehaltvolles, der Schwerpunkt liegt auf Sekundärliteratur.

Zu Entropie und Hoffnung

Die gebundene Ausgabe ist offenbar als Bibliotheksausgabe gedacht und so hat es ein Exemplar bis in die Bibliothek der Stanford Universität geschafft. Vom Besuch bei der Ausgabe in der lokale Universitätsbibliothek wurde in diesem Blog schon berichtet.

Uwe Anton: Philip K. Dick: Entropie und Hoffnung – Texte und Materialien zur phantastischen Literatur, Verlag Thomas Tilsner (1993). ISBN 3-910079-08-3. Originalpreis: DEM 78,00.

Inhalt

  • Zum Geleit 6
  • Philip K. Dick – Umriss eines Lebens 9 
  • Das frühe Kurzgeschichtenwerk 17
  • Die erste Schaffensphase 41
  • Die Mainstream-Romane 61 
  • Das späte Kurzgeschichtenwerk (ab 1963) 81
  • Das Artikelwerk 91
  • Die zweite Schaffensphase 99 
  • Die dritte Schaffensphase 161
  • Posthum erschienene Bücher 191
  • Bibliographie 205
  • Danksagung 255

Man beachte die umfangreiche Bibliographie!

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