Vor langer Zeit, als Facebook noch en vogue war, präsentierte ein
Benutzer dort stolz eine Kopie einer der ganz frühen Kurzgeschichten
von Philip K. Dick. Das war wohl der Ausdruck von einem Microfiche, über Fernleihe von
einer Bibliothek (in Berkeley?) angefordert. Ich habe dann begonnen, weitere
Kurzgeschichten, die in den 40er Jahren in der Lokalzeitung erschienen waren, online zu suchen. Dank der Zeitungsscans von Google liessen
sich
viele dieser Geschichten
auch aufspüren.
Dieser Tage bin ich jetzt noch einmal in die Welt der digitalisierten
Zeitungen eingestiegen und konnte einen, wie ich finde, auf mehrerlei Weise
bemerkenswerten Fund machen: die früheste (mir bekannte) Erwähnung von
Philip K. Dick in der Öffentlichkeit: Ein Zeitungsartikel über den
neunjährigen Philip. In der St. Joseph Gazette vom 14. Juni 1938 können wir aus Seite 2
(5. Spalte, ganz unten) lesen:
This Youngster Not Likely to Wander From Convention KANSAS
CITY. June 13. – (AP) – Philip Dick, nine years old, was told by his
mother to "stay put” – but it really wasn't necessary. His mother, Mrs. Dorothy K Dick, of the children's bureau, Washington, D.
C. is in charge of a booth at the American Library Association convention.
Philip is in the next booth surrounded by 125 volumes of children's
adventure stories.
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Dieser Junge wird wahrscheinlich nicht vom Kongress weglaufenKANSAS CITY. 13. Juni – (AP) – Philip Dick, neun Jahre alt, wurde von seiner Mutter angewiesen, „an Ort und Stelle zu bleiben“ – aber das war wirklich nicht notwendig.Seine Mutter, Frau Dorothy K. Dick vom Kinderbüro in Washington, D.C., leitet einen Stand auf der Kongress der American Library Association. Philip befindet sich im nächsten Stand, umgeben von 125 Büchern mit Abenteuergeschichten für Kinder.
Die erste Frage, die sich dem skeptischen Leser stellt: Geht es hier
wirklich um den Philip K. Dick, der später als Schriftsteller 36
Science Fiction Romane und 120 Kurzgeschichten veröffentlichen wird, von
denen eine gute Anzahl die Grundlage für Verfilmungen in Hollywood
geliefert haben?
Die Frage lässt sich eindeutig beantworten: Ja. Philip war im Juni 1938
neun Jahre alt und seine Mutter, Dorothy K(indred) Dick, hat zu diesem
Zeitpunkt für das US-Kinderbüro in Washington gearbeitet. Schon das dürfte
schlüssig sein, letzte Zweifel werden aber gänzlich ausgeräumt, weil Sutin in seiner Biographie diesen Konferenzbesuch (im Kontext des Jahres 1938) erwähnt:
Dorothy traf ihre Entscheidung, die Hauptstadt zu verlassen, jäh. Als das Bundesamt für Erziehungsfragen sie zu einer Sitzung nach Kansas City schickte, nahm sie Phil mit und verband damit einen Urlaub in Kalifornien. Wieder in der Bay Area von San Francisco, beschloß sie zu bleiben und arrangierte eine Versetzung ins Berkeleyer Büro des Ministeriums für Forstwirtschaft.
Sutins Erwähnung von Dorothys Aufenthalt mit Philip in Kansas City im
Juni sollte überzeugend sein. Die Konferenz der American Library Association fand vom 13. bis 18. Juni mit 1.900 Teilnehmern in Kansas City statt und im Rahmen dieses Ereignisses gab es auch diverse Arbeitstreffen, u. a. zu solchen Themen wie Library Work with Children, dokumentiert im Konferenzbericht.
Sutins Nennung dieses Ereignisses und die Relevanz für Dicks Leben
machen diesen kleinen Artikel besonders relevant: "Im Juni 1938 kehrten Mutter and
Sohn nach Berkeley zurück. Mit Ausnahme von ein paar kurzen Ausflügen
sollte Phil den Rest seines Lebens in Kalifornien verbringen" schreibt Sutin. Philip
kriegt durch den Umzug aus Washington zurück nach Kalifornien auch wieder
Kontakt mit seinem Vater (allerdings nur für einige Jahre).
Betrachtet man die Zeitungsmeldung in ihrem Kontext, so erscheint es
zuerst etwas eigentümlich, dass die Lokalzeitung von St. Joseph, eine Autostunde nördlich von Kansas City, über einen
Neunjährigen berichtet, der etwas nicht tut: aber es geht dieser Kleinstadtzeitung darum, die trockene Meldung über den gerade begonnenen Bibliothekskongress zu verpacken. Und Kinder (oder Tiere) gehen halt immer
... Ein grosser Zufall ist es trotzdem, dass es hier gerade unseren Philip getroffen hat!
Anmerken mag man, dass das wohl Dicks erste Convention war, seine Prägung
zu Büchern hat er aber hier wohl nicht erhalten. Und mit grosser
Wahrscheinlichkeit haben die Protagonisten dieser Geschichte den Artikel
nie gesehen.
Ein Ausflug in die wunderbare Welt der Zeitungsscans kann sehr schöne
Ergebnisse haben und Bekanntem durchaus neue Facetten hinzufügen; die
Unmittelbarkeit des Zeitungsartikels in seiner Ursprünglichkeit als Teil
einer Zeitungsseite und nicht als reiner Textblock bringen das Geschehen
näher als eine sekundäre Erwähnung. Es ist schade, dass Google sein
Digitalisierungsprogramm, das es 2008 begonnen hat, schon 2011 wieder
eingestellt hat. Auch die Berkeley Gazette ist bei Google nur bis 1946
verfügbar. Es gibt weitere Quellen solcher Scans, u. a. den
kommerziellen Newspapers.com mit
fast einer Milliarde Zeitungsseiten. Dieser Blog wird in Zukunft zunächst weiter die kostenfreien Quellen erkunden und darüber berichten. Und neulich hatten wir ja auch schon das Aufgebot hier im Blog.
Für die physische Sammlung spielen solche Funde keine Rolle: alte
Zeitungsausgaben lassen sich nicht sammeln. Es gibt einen zu kleinen Markt,
alte Zeitungen werden wohl als Geburtstagsgeschenke angeboten, spezifische Ausgaben lassen sich so aber nicht finden.
Die Suche in den Scans von Google lässt sich nicht ganz einfach finden,
sie ist daher der
Web-Tipp der Woche.
Der Veranstalter der erwähnten Convention ist die
American Library Association (ALA). Das klingt für manchen
langweilig, ist aber aktuell gerade von Belang: Derzeit
beschäftigt sich die ALA kritisch mit „bedrängten“ (challenged) Büchern, einem vieldiskutierten Thema in den unruhigen USA.
Anhang: Übersetzung & Quellen
Die Übersetzung des Artikels oben ist mit freundlicher Unterstützung von
ChatGPT, wurde aber dezent überarbeitet.
Die Zitate von Sutin stammen aus dem 2. Kapitel auf Seite 58 der
Standardbiographie von Lawrence Sutin: Philip K. Dick: Göttliche Überfälle. Frankfurter Verlagsanstalt (1994), übersetzt von Michael Nagula.
Zum children's bureau: Nagula übersetzt das mit
Bundesamt für Erziehungsfragen. Das ist inhaltlich wohl korrekt,
lässt sich sonst aber so nicht finden.
Wikipedia schreibt (deutsch:) US-Kinderbüro. Auch das findet sich nicht oft. Vermutlich wird dieser Name in der
Regel nicht übersetzt. Es geht aber zweifelsfrei immer um die gleiche
Einrichtung, die Sutin im Original auch genau so benennt.
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