Samstag, 10. Mai 2025

Eine Postkarte aus Ojai

Im September 1942 muss der 13-Jährige Philip K. Dick Berkeley verlassen. Seine Mutter Dorothy hat ihn in ein Internat geschickt, in die California Preparatory School in Ojai (ausgesprochen: O-hei). Dort wird er sein achtes Schuljahr verbringen, zunächst überwiegend unglücklich.
Ojai Valley liegt 350 Meilen südlich von Berkeley, in den Bergen, nördlich von Los Angeles. 1847 hatten die Bewohner beschlossen, die dort neu geplante Stadt Nordhoff zu nennen, nach dem Reisejournalisten Charles Nordhoff, der – angeblich – Ojai Valley in einem seiner Artikel positiv erwähnt hatte. In dieser Realität konnte jener namensgebende Artikel nie gefunden werden und Nordhoff hat die Gegend wohl erst besucht, nachdem die Stadt mit seinem Namen gegründet war.
1903 wird das Foothills Hotel gebaut, eines der renommierten Hotels der Gegend für Reisende, die auch durch Nordhoffs schwärmende Berichte über das südliche Kalifornien in grosser Zahl angezogen werden. Aber schon früh, ab etwa 1894, wächst der Wunsch, die Stadt umzubenennen und 1917 passiert dies auch – möglicherweise angefeuert durch die Ressentiments einem deutschen Namen gegenüber: man war 1917 im Krieg mit dem deutschen Kaiser. Ähnliche Namensänderungen passierten aus diesem Grund andernorts in den USA. Vielleicht waren aber auch nur die Zweifel an Nordhoffs Wirken genug gewachsen.
Ein grosses, weisses Gebäude mit viel Grün drumherum
Das Hauptgebäude der California Preparatory School. Dick hat aber mutmasslich nicht in diesem  Hauptgebäude gewohnt, sondern eher in einem der zugehörigen Häuser bzw. cottages
Das Foothills Hotel von 1903 wird im Jahr der Umbenennung, 1917, in einem der regelmässigen Brände im Tal, zerstört. Der Neubau ist schöner und grösser als das Original, aber mit der Depression der 30er Jahre beginnt der Niedergang und 1942 wird es an die California Preparatory School verkauft. Das Hotel und die umgebenden Hütten (cottages) werde für die Nutzung durch die Schule umgebaut, die Platz für 100 Schüler bieten würde. 1955 wird das Hotel weiterverkauft und schliesslich 1976 abgerissen. Einige Teile des Baus fanden sich anschliessend an verschiedenen Stellen in der Stadt.
Philip K. Dick ist 1942 Schüler des ersten Jahrgangs der Schule an diesem Ort. Gegründet ist sie als Pasadena Military Academy: Der didaktische Auftrag ist vorgegeben, harte Arbeit wird als Arbeitsethos explizit erwähnt. Fatalerweise erzwang der Krieg den Umzug von Covina, wohin die Pasadena Military Academy 1926 umgezogen war und dabei bereits den Namen gewechselt hatte, nach Ojai: Nach dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 gab es auf dem amerikanischen Festland und insbesondere dem Stadtgebiet von Los Angeles, zu dem Covina gehört, eine hysterische Angst vor japanischen Angriffen. Im Februar 1942 hatte es schon „die Schlacht um Los Angeles“ gegeben, eine gewaltige Schiesserei auf einen abgetriebenen Wetterballon mit fünf Todesopfern auf amerikanischer Seite und gänzlich ohne japanische Beteiligung (ironisch übertrieben verfilmt von Stephen Spielberg als Komödie unter dem Titel 1941 – Wo bitte geht’s nach Hollywood).
Ein Originalbild von einem Strassenschild
Ojai heute ... oder zumindest nicht weit entfernt
Möglicherweise hat diese Furcht bei Dorothys Überlegungen, ihren Sohn in die vermeintlich sicheren Berge Südkaliforniens zu schicken, mitgespielt. Beigetragen hat aber sicher, dass Philip begonnen hatte, regelmässig Schulbesuche zu vermeiden. Seine angeschlagene Gesundheit, Asthma, Akne und anderes, mag ein Grund dafür gewesen sein, psychische Probleme, wie seine sozialen Phobien, erscheinen aber relevanter: und diese sollte – aus ihrer Sicht – ein militärisch orientiertes Internat besser adressieren als eine alleinerziehende Mutter. Rickman schreibt in seinem Kapitel [RickmanE89a, Kapitel 11, Seite 108-117] über Ojai, es sei die Empfehlung eines Therapeuten gewesen, den Philip schon länger besuchte. Der junge Philip fühlt sich aber zweifellos „weggeschickt“. Unbehaglich war es für ihn auch, weil es sich um ein Internat für reiche Kinder handelte, dass sich Dorothy nur leisten konnte, weil sie ein Arbeitsstipendium ausgehandelt hatte: Philip musste in der Küche arbeiten, worüber er sich auch oft und lauthals beschwerte und worin er den Grund für seine mangelhaften Leistungen in  Mathematik sah. Darüber gab es zahlreiche Berichte in seinen Briefen, sowie über seine Abneigung gegen den umfänglichen Sportunterricht. Ausserdem schreibt er über (den Mangel an) Geld, Schallplatten (und deren Verkauf, um vorigen Mangel auszugleichen), Feinde und (wenige) Freunde und erwähnt seine daheimgebliebene Katze Skipper. Im jungen Philip steckt schon viel Phil.
Ein Beispiel:
[TO DOROTHY K. DICK] September 30, 1942
Dear Mom,
[...]
    I sold my Tschkowsky’s (sic) 5th for $3.00 to a boy.
    I have decided to stay here. I might come home in February, but I don’t think so.
    Please send me: 2 white shirts, 3 colored long sleeved shirts; 1 package of
Greythorn needles. No nail cutter; I found mine.
    I have very little time to write.
    I wish you would write Dr. Brush and have me excused from Gym.
    Have everyone write. We look forward to the mail eagerly.
    Please send music-books!
    The school gives me, and everyone else, their allowance each week. 50¢  for me. They may send you a bill, I don’t know.
Love,
Philip
Aus den Selected Letter 1938–1971. Die erwähnten Greythorn needles sind Tonabnehmer-Nadeln für ein Grammophon.

Die Biographen

Lawren Sutins Biographie, ein Standardwerk
Sutin hat in seiner Biographie Divine Invasions keine zwei Seiten zu Ojai und zitiert hauptsächlich aus Briefen, die man in den Selected Letters of Philip K. Dick 19381971 nachlesen kann.
Der erste Band der Selected Letters startet mit dem Faksimile des „Abschiedsbriefs“ vom  Schuldirektor Murray Peabody Brush an Dorothy vom September 1943; Philip hatte nach einem Jahr genug von der Schule und seine Mutter dazu gebracht, ihn abzumelden (Anmerkung: Der letzte Brief in diesem ersten Band der Selected Letters ist an Franz Rottensteiner gerichtet bezüglich Stanislaw Lems folgenreichen Artikel Science Fiction - A Hopeless Case, With Exceptions, mehr dazu hier im Blog.)
Rickman hat offenbar Zugriff auf mehr Material, er zitiert Details, die sich in den Selected Letters nicht finden. Tatsächlich bilden die Briefe die beste Quelle, um sich ein Bild von seinem Leben im Internat zu machen. Philip nutzt seine Briefe aber geschickt, um den von ihm gewollten Eindruck (meist: leidend) zu schaffen: sein Spiel mit der Realität beginnt früh.
Rickmans Fazit über die Zeit in Ojai ist, dass Dick dort wohl nicht glücklich war, er aber schliesslich mehr (gesunden) Abstand von seiner Mutter gewonnen hat. Das findet sich in Rickmans Biografie To The High Castle – Philip K. Dick: A Life 19281962, Valentine Press (1989). Dieses Buch ist ein must-read zum Leben (und damit zum Werk) von Philip K. Dick, es sollte ergänzend zu Sutin gelesen werden, dem ich allerdings Vorrang geben würde. Der zweite Teil von Rickmans Biographie über die letzten zwanzig Jahre von Dicks Leben, ist leider nie („noch nicht“ kann man wohl nicht mehr sagen) erschienen.
Dick hat viele Eindrücke der Zeit in Ojai in seinem Mainstream-Roman Puttering About in a Small Land, auf Deutsch erschienen als Unterwegs in einem kleinen Land bei Liebeskind (2010), verarbeitet; zu Ojai in Dicks Werk allgemein soll (und wird! wirklich!) ein separater Eintrag in diesem Blog folgen.
Rückseite der oben gezeigten Postkarte mit dem Text
California Preparatory School
Für den Sammler bleiben von Dicks Zeit in Ojai Bilder seiner Schule. Das Foothills Hotel war ein populäres Motiv von Postkarten der Zeit, eine einzige Postkarte aus der Zeit als Schule konnte ich entdecken und der Sammlung hinzufügen.
Aus der Zeit des erstens Hotels, etwa 1910, findet sich eine Postkarte des Hotels Made in Germany – soweit war die Globalisierung schon damals.
Ein bisschen mehr von der Gegend um das Hotel zeigt diese Postkarte, ebenfalls aus der Zeit des ersten Hotels.
Ojai ist heute eine Schlafstadt für wohlhabendere Bürger. Nach dem Abriss der Schule 1976 wurde an der Adresse 1250 Foothill Rd, Ojai, CA 93023, ein neues Haus gebaut. Das Haus war von 2012 bis 2016 im Besitz der Schauspielerin Emily Blunt, die 2011 die weibliche Hauptrolle im Film Der Plan gespielt hat (vielleicht hat sie den Kaufpreis von über 2 Millionen Dollar mit dem Geld vom Film finanziert). Der Film basiert auf Dicks Kurzgeschichte Umstellungsteam [Adjustment Team]. Ob Blunt von diesem Zusammenhang wusste, bleibt unbekannt.

Webtipps

Etwas mehr findet sich über Ojai im Netz, über den Brand des Hotels und die Umbenennung der Ortschaft,

Preise

Gregg Rickman: "To the High Castle, Philip K. Dick: A Life, 19281962". Valentine Press (1989) bei 70 Euro plus Versandkosten.

Postkarten von Ojai liegen bei $10 zuzüglich (oft sehr geringer) Versandkosten

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