Philip K. Dicks Roman
Blade Runner, ursprünglich erschienen unter dem Titel
Do Androids Dream of Electric Sheep?, sind eine Widmung, drei Verszeilen eines Gedichts von William Butler Yeats
sowie eine Zeitungsmeldung vorangestellt. Diese drei kurzen Textteile sind
leicht überlesen, hinter jedem verbirgt sich aber eine umfassendere
Geschichte. Die Widmung an seine Schwiegermutter wurde
in diesem Blog
schon kurz behandelt und etwas umfassender im vorigen Blogeintrag die Verbindung zu Yeats betrachtet.
Auch die Meldung von Reuters aber hat ihre Geschichten.
Auckland
A TURTLE WHICH EXPLORER CAPTAIN COOK GAVE TO THE KING OF TONGA IN 1777 DIED YESTERDAY. IT WAS NEARLY 200 YEARS OLD.
THE ANIMAL, CALLED TUʻIMALILA, DIED AT THE ROYAL PALACE GROUND IN THE TONGAN CAPITAL OF NUKUʻALOFA.
THE PEOPLE OF TONGA REGARDED THE ANIMAL AS A CHIEF AND SPECIAL KEEPERS WERE APPOINTED TO LOOK AFTER IT. IT WAS BLINDED IN A BUSH FIRE A FEW YEARS AGO.
TONGA RADIO SAID TU’IMALILA’S CARCASS WOULD BE SENT TO THE AUCKLAND MUSEUM IN NEW ZEALAND.
Reuters, 1966
Tatsächlich ist im Mai 1966 Tu'i Malila, eine sehr alte, blinde
Schildkröte, die lange am Hof des Königs von Tonga gehalten wurde, verstorben.
Die Tradition überliefert, das es sich bei dem männlichen Tier um ein Geschenk
des berühmten britischen Seefahrers und Entdeckers James Cook handelt, das
dieser dem damaligen Herrscher 1777 während seiner dritten Südseereise
geschenkt hat. Nach ihrem Tod ist die Schildkröte nach Neuseeland zum
Auckland Institute and Museum geschickt und dort untersucht und
konserviert worden.
Nicht Tu'i Malila, sondern ein kleinerer Verwandter |
Genauer geschaut
Die erste Aussage der Meldung bezieht sich auf Captain Cook. Tatsächlich
entspricht es der lokalen Tradition, dass die Schildkröte von Cook persönlich
der Herrscherfamilie geschenkt wurde. An diesem Detail gab es schon vor dem
Tod begründete Zweifel, so gibt es keinen historischen Beleg – und man hätte
erwarten können, dazu etwas in Cooks ausführlichen Aufzeichnungen zu finden.
Und darüber hinaus kommt der Besitz einer Schildkröte aus der Hand des
britischen Helden Cook mit hohen Prestige. Wir finden in Tonga also Motiv und
Gelegenheit – und kein Alibi. Es dürfte aber schwer werden, das Gegenteil zu
beweisen; die vermutete Schenkung durch einen Walfänger oder ähnliches dürfte
kaum zu belegen sein.
Weiterhin impliziert der Text, dass es sich um einen männlichen
Chief handelt, die Schildkröte hatte auch den Titel Tu'i –
auf Tongaisch heisst das König. Die Obduktion des Tieres in Neuseeland
ergab aber, das es sich wahrscheinlich um ein Weibchen handelte – die primären
Merkmale waren dem Transport zum Opfer gefallen, doch die typische Form des
Bauchpanzers liess auf ein Weibchen schliessen. Dieser Irrtum kann den
Tongaern aber entschuldigt werden.
Wir finden also in dieser Meldung einige Punkte, die nicht so sind, wie sie
erscheinen – wohl nicht Cook, sondern eher ein vorbeifahrender Walfänger habt
die Schildkröte gebracht und sie ist auch kein König, sondern, unbemerkt von
der Umgebung, eine Königin. Dick waren diese Uneindeutigkeiten sicher nicht
bewusst, gestört hätten sie ihn aber wohl nicht.
Im Sinn hatte Dick anderes mit dieser Meldung. Er wollte uns die Empathie der
Menschen von Tonga zeigen, die sich über fast zwei Jahrhunderte um dieses Tier
gekümmert haben, so wie sich in seinem Roman die Menschen um – echte oder
wenigstens künstliche – Tiere kümmern. Der grosse Gegensatz der Lebensspanne
der Schildkröte gegenüber der der Androiden spielt möglicherweise auch eine
Rolle.
Bei der Schildkröte handelte es sich, wie die Untersuchung herausfand, um eine
Strahlenschildkröte. Strahlenschildkröten leben auf Madagaskar und sind heute
eine bedrohte Art. Es handelt sich um recht grosse Landschildkröten, aber
keine Giganten, Tu'i Malila war 24 cm hoch. Die präparierte Schildkröte ist
von Auckland in die Hauptstadt von Tonga, Nuku'alofa, zurückgekehrt und dort
zunächst im International Dateline Hotel ausgestellt worden. Jetzt
befindet sie sich im Tonga National Center, einem Kulturzentrum, wo man
sie besichtigen kann.
Erwähnen sollte man noch – denn praktisch jeder Text über das Tier tut das –
dass die junge Königin Elisabeth den Hof von Tonga 1953 besucht hat und dort,
das ist durch Fotos belegt, auch Tu'i Malila getroffen hat.
Und Wikipedia?
Wer Dick liest, beschäftigt sich viel damit, was Realität ist – und was nicht.
Und Fake News sind nicht mit dem putzigen Mann aus Washington
verschwunden. Die Frage, was wahr ist und wie die Dinge sind, ist also
aktueller denn je.
Ein Reiseführer über Tonga |
Das führt uns zur (vermeintlichen) Quelle alles Wissens, der Wikipedia. Die
englische Seite zu Tu'i Malila ist recht lesbar. Man mag den fehlende Verweis auf
Do Androids Dream of Electric Sheep?
bemängeln; den gibt es auf der
französischen Seite.
Die
deutsche Seite,
sowie die Seiten von einigen weiteren Sprachen, sind aber offenbar Kopien
einer frühen, fehlerhaften englische Seite. Insbesondere das Todesjahr,
tatsächlich 1966, ist als 1965 angegeben; die englische Seite hat das
erst 2019 korrigiert. Der Reiseführer
Tonga von Matt Fletcher und
Nancy Keller von 2001, den die deutsche Seite noch als Quelle führt, schreibt
auch vom Todesdatum 1966. Man kann also nicht davon ausgehen, dass der
Autor einer Seite die Quelle auch gelesen hat … sondern auch nur von irgendwo
kopiert hat. Nun ja. Das Todesjahr einer einzelnen Schildkröte ist vielleicht
auch nicht so wichtig und im Grossen und Ganzen stimmt ja alles. Leider wird
dieses falsche Todesdatum allerorten zitiert, auch vom Bayerischen Rundfunk,
der Tu'i Malila und Konsorten
ein Kalenderblatt widmet, das im Zweifel weiterzitiert wird – und so weiter.
Mich hat die Abweichung zwischen Dicks „Reuters 1966“ und Wikipedias „1965“
auf eine längere Suche geschickt (bei der ich viel über Tonga, Cook und
Schildkröten gelernt habe).
Zum genauen Datum sagt die englische Wikipedia 16. Mai, die deutsche
19. Mai. Die einzige Quelle, die ich dazu finden konnte und die nicht
offensichtlich von Wikipedia kopiert hat, war
ein wissenschaftlicher Artikel zur Tierwelt in Tonga von B. J. Gill (1990), in der auch die Migrantin Tu'i Malila erwähnt
wird:
“Cook's Tortoise” (Tu’i Malila)
Tongatapu: The tortoise currently in the Royal Palace grounds (Gill 1988) arrived in Tonga on 16 September 1966 (Tonga Chronicle, 23/9/1966). It was a gift to the Kingdom from the National Geographic Society which obtained it from Madagascar intending it to be a mate for the tortoise that died on 18 May 1966. It is presumably Testudo radiata, and was named “Tu’i Malila II” by King Taufa'ahau Tupou IV.
Gill vertritt also die sonst nicht gehörte Meinung, der Todestag sei der 18.
Mai; dafür spricht, dass es die einzige verlässliche Quelle ist. Und wir hören
von Tu'i Malila II, von der sonst allerdings (fast) keine Spuren existieren.
In einem
älteren Artikel von 1988 schreibt Gill:
“Cook’s Tortoise” (Tu'i Malila)
Tongatapu: The Madagascan Testudo radiata that was kept in the Royal Palace grounds, that died in May 1966, and that had a carapace 24 cm high (Robb & Turbott 1971) is on display at the Tongan National Centre. [...] On 3 July 1988, while attending a feast in the grounds of the Royal Palace, I saw yet another tortoise – a small (presumably young) one – that had the freedom of the grounds.
Die wichtigsten Belege für ein Todesdatum im Mai 1966 sind die Quellen der
englischen Wikipedia-Seite:
ein Scan der Juni 1966 Ausgabe von Pacific Islands Monthly
und der
wissenschaftliche Artikel zur Untersuchung des Kadavers (Robb & Turbott
1971) am Auckland Institute and Museum. Beide sind sich auch sehr
sicher bezüglich des Todesjahres und Monats und auch Gill schreibt das in den
zwei genannten Artikeln.
Und im Film
Ein Echo der Reuters-Meldung findet sich im ersten Dialog des Films, in dem
ein Blade Runner, Dave Holden, den Androiden Leon dem Voigt-Kampff-Test
unterzieht, um eine emotionale Reaktion beim Befragten zu erreichen:
Holden: You're in a desert, walking along in the sand, when all of a sudden you look down …Das komplette Drehbuch kann man auch, in unterschiedlichsten Versionen, im Netz finden: Blade Runner Drehbuch (Englisch). Und ja, auch das: im Umfeld des Films heisst der Test „Voight-Kampff“ (mit „h“), im Roman nennt Dick ihn „Voigt-Kampff“.
Leon: What one?
Holden: What?
Leon: What desert?
Holden: It doesn't make any difference what desert, it's completely hypothetical.
Leon: But, how come I'd be there?
Holden: Maybe you're fed up. Maybe you want to be by yourself. Who knows? You look down and see a tortoise, Leon. It's crawling toward you...
Leon: Tortoise? What's that?
Holden: [irritated by Leon's interruptions] You know what a turtle is?
Leon: Of course!
Holden: Same thing.
Leon: I've never seen a turtle... But I understand what you mean.
Holden : You reach down and you flip the tortoise over on its back, Leon.
Leon: Do you make up these questions, Mr. Holden? Or do they write 'em down for you?
Holden: The tortoise lays on its back, its belly baking in the hot sun, beating its legs trying to turn itself over, but it can't. Not without your help. But you're not helping.
Leon: [angry at the suggestion] What do you mean, I'm not helping?
Holden: I mean: you're not helping! Why is that, Leon?
Und zum Abschluss
Tonga ist stolz auf seine(n) Tu'i Malila. Und deshalb ist das Tier auch auf
Münzen und Briefmarken zu finden. Und natürlich werden auch
Schildkröten auf Briefmarken
gesammelt. Tonga ist auch stolz auf seine Meeresschildkröten, daher ist
Achtung geboten: nicht jede Schildkröte auf einer tongaischen Briefmarke
oder Münze ist Tu'i Malila.
Tu'i Malila, hier in Verbindung mit Blade Runner, hat
auch Künstler inspiriert.
Jetzt fehlt noch eine Übersetzung von
Do Androids Dream of Electric Sheep?
auf Tongaisch.
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