Schon
im Jahresausblick ausführlich angekündigt wurde das Highlight des Jahres: Ich lebe und ihr seid tot – Die Parallelwelten des Philip K. Dick, die deutsche
Übersetzung von Emmanuel Carrère Buch Je suis vivant et vous êtes morts.
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Ich lebe und ihr seid tot – Die Parallelwelten des Philip K. Dick |
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Der jüngere Emmanuel Carrère in der englischen Ausgabe (es ist der echte Carrère) |
Übersetzt hat das Buch Claudia Hamm. Die Übersetzung wirkt auf dieses
ungeschulte Auge gelungen, Scheck nennt die Übersetzerin wunderbar,
Hamm ist die Stammübersetzerin des Autoren, es handelt sich hier also um
eine literarische Übersetzung hoher Qualität. Hamm schreibt eigene Romane
und hat auch am Burgtheater in Wien inszeniert. Auch schön ist, dass der
Verlag die Übersetzerin auf dem Umschlag nennt, das solle ganz allgemein
Standard werden.
Das Buch enthält eine kurze Nachbemerkung (1993) von Carrère,
die sich in meiner Ausgabe der englischen Übersetzung (Bloomsbury 2005)
unerwartet nicht findet und eine Anmerkung der Übersetzerin, die allgemein
auf Kürzungen hinweist, die in Absprache mit dem Autoren erfolgt sind.
Angesprochen werden muss wohl auch der Inhalt des Werks: Diese Buch ist
keine Biographie: Wikipedia schreibt sehr treffend:
Emmanuel Carrère beschreibt das Buch als seine Darstellung „des Lebens von Philip K. Dick von innen heraus, mit anderen Worten, mit derselben Freiheit und Empathie – ja mit derselben Wahrheit – mit der er seine eigenen Charaktere darstellte“.
Die Wahrheit ist also eine innere, nicht eine äussere bzw. (streng)
faktische und der Autor will das auch ganz explizit so. Man darf Carrère
Worte also nicht wörtlich nehmen. Im Kino würde man das
Biopic nennen. Das hat zu viel Kritik geführt, man könnte
argumentieren von Menschen, die das Buch bzw. diesen Ansatz nicht
verstanden haben. Ein wenig problematisch wird, dass Sutin
gelegentlich Details einstreut, bei denen es nicht um innere Handlung geht
(bei der klar ist, dass sie frei ergänzt und nicht faktisch ist), man
liest z. B. gleich auf der ersten Seite:
[...] Am 26. Januar 1929 starb Jane.Das stimmt ziemlich sicher so nicht. Es gibt keinen Beleg dafür, dass der Grabstein in Fort Morgan schon 1929 gesetzt wurde, aber viele konkrete und evidente Hinweise dafür, dass dies erst nach Philip K. Dicks Tod geschehen ist. Carrère schreibt so, weil es ein schönes Bild ist, ein Grab das auf Dick wartet, mit seinem Namen und dem seiner Schwester. Und so schliesst er auch das Buch, dieses Grab bildet eine sehr gelungene Klammer und erklärt auch viele Aspekte von Dicks Charakter – obwohl es unsere Realität nicht korrekt abbildet. Und das ist nicht post-faktisch, also beliebig, sondern supra-faktisch, einem Schriftsteller erlaubt, einem Historiker und Politiker jedoch streng verboten.
Sie wurde auf dem Friedhof in Fort Morgan, Colorado begraben, von dort stammte die Familie väterlicherseits. Auf dem Grabstein gravierte man neben ihrem Vornamen den ihres Bruders ein, der überlebt hatte, dazu ihr gemeinsames Geburtsdatum, dann einen Bindestrich, dann nichts.
Es gibt weitere Textstellen der Art wie die oben zitierte, die erklären,
warum dieses Buch bei einigen Fans auf Ablehnung stösst. Diese
technischen Details ändern aber nichts an der eigentlichen Qualität
des Buches, uns Dick näherzubringen und können (oder sollten) kein Grund
sein, das Buch nicht gelten zu lassen.
Der Titel des Buches bezieht sich auf Dicks Roman Ubik. Dort wird in
einer zentralen Szene am Ende des neunten Kapitels ein Graffiti in einer
Toilette beschrieben:
LEAN OVER THE BOWLAND THEN TAKE A DIVE.ALL OF YOU ARE DEAD.I AM ALIVE.
Renate Laux übersetzt das mit IHR SEID ALLE TOT, ICH BIN AM LEBEN (in der
Überarbeitung von Alexander Martin ändert sich nur die Interpunktion). Und
auf Französisch heisst es in der Übersetzung von Alain Dorémieux:
VOUS ÊTES TOUS MORTS, JE SUIS VIVANT.
Die Kritik
Eine schöne Kritik, die oben zitiert ist, kommt von Denis Scheck; man kann
sie sich
beim WDR vollständig anhören. Scheck hat sich in seiner Jugend sehr ausführlich mit Science Fiction
beschäftigt und zwei Übersetzungen von Kurzgeschichten von Dick von ihm sind
veröffentlicht. Man bereite sich trotzdem auf Schundautor, aber auch auf Kafka vor – in einem Satz und beide natürlich mit Bezug auf Dick.
Auch auf SWR3 gibt's was zu hören: Frank Herweck, selbsterklärt kein Experte
für Science Fiction – und das ist gut so! – spricht positiv und ausführlich,
auch über Dick uns sein Werk. Beachtenswert sein Verweis auf die Rolle von
Religion für Carrère und dessen Verständnis von Dick.
Und sonst wo
Die erste Übersetzungen ist in Italien erschienen, es gibt Ausgaben in
weiteren Sprachen:
- Italien, 1995 als Io sono vivo, voi siete morti. Un viaggio nella mente di Philip K. Dick und vier weitere Ausgaben
- Rumänien, 1998 als Eu Sunt Viu Iar Voi Sunteti Morti – Philip K Dick
- Spanien, 2002 als Yo Estoy Vivo y Vosotros Estais Muertos und drei weitere Ausgaben
- Portugal, 2016 als Eu Estou Vivo E Voces Estao Mortos: A Vida De Philip K. Dick
- Koreanisch, 2022 als 필립 K. 딕 : 나는 살아 있고, 너희는 죽었다 1928–1982 / Pillip K. Dik
Ergänzend sei gesagt: Wer eine echte Biographie sucht, dem seien Sutins Göttliche Überfälle sehr empfohlen.
Bitte im Buchhandel kaufen!
Preise
Emmanuel Carrère: "Ich lebe und ihr seid tot", Matthes und Seitz Berlin, gebunden mit Schutzumschlag 368 Seiten, ISBN 978-3-95757-881-5 für 28,00 Euro
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