Samstag, 15. März 2025

Ich lebe und ihr seid tot

Schon im Jahresausblick ausführlich angekündigt wurde das Highlight des Jahres: Ich lebe und ihr seid tot – Die Parallelwelten des Philip K. Dick, die deutsche Übersetzung von Emmanuel Carrère Buch Je suis vivant et vous êtes morts.
Je suis vivant et vous êtes morts
Ich lebe und ihr seid tot – Die Parallelwelten des Philip K. Dick
Dieses Buch ist bereits 1993 auf Französisch erschienen – da war Dick elf Jahre tot – und dann 2004 in einer englischen Übersetzung I Am Alive and You Are Dead: A Journey Into the Mind of Philip K. Dick beim Verlag Metropolitan Books in den USA, übersetzt von Timothy Bent. Und weitere 21 Jahre später, praktisch (und wohl nicht ganz zufällig) auf den Tag 43 Jahre nach Dicks Tod, nun endlich auf Deutsch bei bei Matthes und Seitz Berlin unter dem Titel Ich lebe und ihr seid tot – Die Parallelwelten des Philip K. Dick.
Emmanuel Carrère
Der jüngere Emmanuel Carrère
in der englischen Ausgabe
(es ist der echte Carrère)
Carrère war (und ist) ein Fan von Philip K. Dick: Denis Scheck nennt das Buch eine Liebeserklärung. Wir wissen, Frankreich liebt Philip K. Dick und Emmanuel Carrère tut das ganz offensichtlich auch. Als Carrère dieses Buch geschrieben hat, war er noch wenig bekannt, mittlerweile ist er ein französischer Grossschriftsteller: Scheck nennt ihn in seiner Besprechung eine der allerwichtigsten Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur, ja der Weltliteratur. Und dieses Buch ist 43 Jahre nach Dicks Tod noch immer aktuell – oder vielleicht sogar aktueller denn je, weil Dick so aktuell ist: und wohl eher wegen seiner Überlegungen zu politischen Gegebenheiten als zur Künstlichen Intelligenz, wo er oft und gerne genannt wird. Das sagt viel über Dick, die Rezeption von Dick, aber auch Carrères Werk aus, das nicht gealtert, sondern sehr gut gereift ist. (Und es sagt viel über unsere Zeit aus, dass ein Schriftsteller, dessen Werk als dystopisch wahrgenommen wird, so aktuell ist.)
Übersetzt hat das Buch Claudia Hamm. Die Übersetzung wirkt auf dieses ungeschulte Auge gelungen, Scheck nennt die Übersetzerin wunderbar, Hamm ist die Stammübersetzerin des Autoren, es handelt sich hier also um eine literarische Übersetzung hoher Qualität. Hamm schreibt eigene Romane und hat auch am Burgtheater in Wien inszeniert. Auch schön ist, dass der Verlag die Übersetzerin auf dem Umschlag nennt, das solle ganz allgemein Standard werden.
Das Buch enthält eine kurze Nachbemerkung (1993) von Carrère, die sich in meiner Ausgabe der englischen Übersetzung (Bloomsbury 2005) unerwartet nicht findet und eine Anmerkung der Übersetzerin, die allgemein auf Kürzungen hinweist, die in Absprache mit dem Autoren erfolgt sind.
Angesprochen werden muss wohl auch der Inhalt des Werks: Diese Buch ist keine Biographie: Wikipedia schreibt sehr treffend:
Emmanuel Carrère beschreibt das Buch als seine Darstellung „des Lebens von Philip K. Dick von innen heraus, mit anderen Worten, mit derselben Freiheit und Empathie – ja mit derselben Wahrheit – mit der er seine eigenen Charaktere darstellte“.
Die Wahrheit ist also eine innere, nicht eine äussere bzw. (streng) faktische und der Autor will das auch ganz explizit so. Man darf Carrère Worte also nicht wörtlich nehmen. Im Kino würde man das Biopic nennen. Das hat zu viel Kritik geführt, man könnte argumentieren von Menschen, die das Buch bzw. diesen Ansatz nicht verstanden haben. Ein wenig problematisch wird, dass Sutin gelegentlich Details einstreut, bei denen es nicht um innere Handlung geht (bei der klar ist, dass sie frei ergänzt und nicht faktisch ist), man liest z. B. gleich auf der ersten Seite:
[...] Am 26. Januar 1929 starb Jane.
Sie wurde auf dem Friedhof in Fort Morgan, Colorado begraben, von dort stammte die Familie väterlicherseits. Auf dem Grabstein gravierte man neben ihrem Vornamen den ihres Bruders ein, der überlebt hatte, dazu ihr gemeinsames Geburtsdatum, dann einen Bindestrich, dann nichts.
Das stimmt ziemlich sicher so nicht. Es gibt keinen Beleg dafür, dass der Grabstein in Fort Morgan schon 1929 gesetzt wurde, aber viele konkrete und evidente Hinweise dafür, dass dies erst nach Philip K. Dicks Tod geschehen ist. Carrère schreibt so, weil es ein schönes Bild ist, ein Grab das auf Dick wartet, mit seinem Namen und dem seiner Schwester. Und so schliesst er auch das Buch, dieses Grab bildet eine sehr gelungene Klammer und erklärt auch viele Aspekte von Dicks Charakter – obwohl es unsere Realität nicht korrekt abbildet. Und das ist nicht post-faktisch, also beliebig, sondern supra-faktisch, einem Schriftsteller erlaubt, einem Historiker und Politiker jedoch streng verboten.
Es gibt weitere Textstellen der Art wie die oben zitierte, die erklären, warum dieses Buch bei einigen Fans auf Ablehnung stösst. Diese technischen Details ändern aber nichts an der eigentlichen Qualität des Buches, uns Dick näherzubringen und können (oder sollten) kein Grund sein, das Buch nicht gelten zu lassen. 
Der Titel des Buches bezieht sich auf Dicks Roman Ubik. Dort wird in einer zentralen Szene am Ende des neunten Kapitels ein Graffiti in einer Toilette beschrieben:
LEAN OVER THE BOWL
AND THEN TAKE A DIVE.
ALL OF YOU ARE DEAD.
I AM ALIVE.
Renate Laux übersetzt das mit IHR SEID ALLE TOT, ICH BIN AM LEBEN (in der Überarbeitung von Alexander Martin ändert sich nur die Interpunktion). Und auf Französisch heisst es in der Übersetzung von Alain Dorémieux: VOUS ÊTES TOUS MORTS, JE SUIS VIVANT.

Die Kritik

Eine schöne Kritik, die oben zitiert ist, kommt von Denis Scheck; man kann sie sich beim WDR vollständig anhören. Scheck hat sich in seiner Jugend ausführlich mit Science Fiction beschäftigt und zwei Übersetzungen von Kurzgeschichten sind veröffentlicht. Man bereite sich auf Schundautor und Kafka vor – in einem Satz und beide natürlich mit Bezug auf Dick.
Auch auf SWR3 gibt's was zu hören: Frank Herweck, selbsterklärt kein Experte für Science Fiction – und das ist gut so! – spricht positiv und ausführlich, auch über Dick uns sein Werk. Beachtenswert sein Verweis auf die Rolle von Religion für Carrère und dessen Verständnis von Dick.

Und sonst wo

Die erste Übersetzungen ist in Italien erschienen, es gibt Ausgaben in weiteren Sprachen:
  • Italien, 1995 als Io sono vivo, voi siete morti. Un viaggio nella mente di Philip K. Dick und vier weitere Ausgaben
  • Rumänien, 1998 als Eu Sunt Viu Iar Voi Sunteti Morti – Philip K Dick
  • Spanien, 2002 als Yo Estoy Vivo y Vosotros Estais Muertos und drei weitere Ausgaben
  • Portugal, 2016 als Eu Estou Vivo E Voces Estao Mortos: A Vida De Philip K. Dick
  • Koreanisch, 2022 als 필립 K. 딕 : 나는 살아 있고, 너희는 죽었다 1928–1982 / Pillip K. Dik

Ergänzend sei gesagt: Wer eine echte Biographie sucht, dem seien Sutins Göttliche Überfälle sehr empfohlen.

Bitte im Buchhandel kaufen!

Preise

Emmanuel Carrère: "Ich lebe und ihr seid tot", Matthes und Seitz Berlin, gebunden mit Schutzumschlag 368 Seiten, ISBN 978-3-95757-881-5 für 28,00 Euro

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