Samstag, 24. Februar 2024

Tony und die Pyramiden

Es ist nur eine kurze Bemerkung in einem Brief an Roger Zelazny: Philip K. Dick thematisiert die deutsche Übersetzung seines Romans The Penultimate Truth. Das verdient trotzdem einen Eintrag in diesem Blog, der sich doch vornehmlich für alles Deutsche im und um das Werk von Philip K. Dick herum interessiert.
Dick hatte um 1968 mit Roger Zelazny eine Zusammenarbeit für Deus Irae vereinbart, es gab in der Folge einen Austausch zwischen den beiden Autoren, viele Details bleiben dabei aber unklar. In einem Brief vom 13.9.1970 schreibt Dick über die deutsche Übersetzung von The Penultimate Truth. Es handelt sich um die deutsche Erstausgabe, die gerade unter dem Titel Zehn Jahre nach dem Blitz bei Goldmann herausgekommen war [Selected Letters 19381971]:

Here below is an interesting business. A German translation of my novel, THE PENULTIMATE TRUTH, not a very good novel, but with a quite good opening paragraph. First the German:

Der Nebel kann von drauszen kommen und dich einholen; er kann
eindringen. Joseph Adams, am langen hohen Fenster seiner Bibliothek – sie 
befand sich in einem bizarren Gebäude aus Betonblöcken, die früher, in einer
anderen Zeit, eine Auffahrtsrampe zur Autobahn Bayshore gebildet hatten 
hing seinen Gedanken nach und betrachtete den Nebel, den des Pazifiks. Und
weil es Abend war und sich die Welt verdunkelte, schreckte ihn dieser Nebel
ebensosehr wie jener andere Nebel, der im Innern, der nicht eindrang,
sondern sich ausdehnte, sich bewegte und den ganzen Körper ausfüllte.
Gewöhnlich nennt man jenen Nebel die Einsamkeit.

Now the English which I wrote, which is not as good:

A fog can drift in from outside and get you; it can invade. At the long
high window of his library—an Ozymandiasian structure built from concrete
chunks that had once in another age formed an entrance ramp to the Bay-
shore Freeway  Joseph Adams pondered, watched the fog, that of the Pacific. And because this was evening and the world was darkening, this fog scared
him as much as that other fog, the one inside which did not invade but
stretched and stirred and filled the empty portions of the body. Usually, that
latter fog is called loneliness.

The German translator has observed and reproduced the size of each line; it is absolutely faithful to the original, but so much more beautiful. “Gewöhnlich nennt man jenen Nebel die Einsamkeit.” A line worthy of Heine or Goethe, don’t you think?
Man kann sich vorstellen, dass Dick kurz zuvor das Belegexemplar der deutschen Ausgabe erhalten und sich damit beschäftigt hatte. Er mag dem ersten Abschnitt einen besonderen Wert beigemessen haben und sich daher ausführlicher damit beschäftigt haben. Und offenbar hat ihm gefallen, was er gelesen hat!
Der von Dick ungenannte deutsche Übersetzer ist Tony Westermayr, er würde sich gefreut haben. Von diesem privaten Brief an Zelazny dürfte er aber frühestens 1996 Kenntnis erhalten haben, als dieser Band der Selected Letters veröffentlicht wurden – anders als Dicks recht negative Kritik an der Übersetzung von Ubik, die sehr öffentlich war (und möglicherweise zur Überarbeitung beigetragen hat).
Zweimal die "Zap Gun" auf Deutsch
Erste und zweite Auflage von Zehn Jahre nach dem Blitz bei Goldmann (1975 links, 1970 rechts)
Westermayr hat zehn Romane von Dick übersetzt – das ist ein deutscher Rekord. Diese Übersetzungen gelten allgemein nicht als die Besten, das ist aber auch auf die – vom Verlag vorgegebenen – Kürzungen zurückzuführen. Ausserdem handelt es sich bei den Goldmann WELTRAUM Taschenbüchern auch nicht um literarische Übersetzungen: Der Verlag hat bekommen, was er bezahlt hat.
Eine zweite Auflage, mit neuem Umschlagbild von Jürgen F. Rogner, aber weiterhin in der Westermayr-Übersetzung, ist in der Reihe Goldmann Science Fiction 1975 herausgekommen.
Eine Neuübersetzung ist 1984 im Bastei-Verlag Lübbe erschienen, sie mag bei einer Betrachtung helfen. Waltraud Götting schreibt da:
Nebel kann von außen hereintreiben und dich umfangen – er
kann eindringen. Am hohen, breiten Fenster seiner Bibliothek
einem ozymandiesken Bauwerk aus Zementbrocken, die
einst, in einem anderen Zeitalter, die Auffahrt zur Küstenauto-
bahn gebildet hatten 
 war Joseph Adams in Gedanken ver-
sunken und beobachtete den Nebel, den des Pazifiks. Und weil
der Abend bereits hereingebrochen war und die Welt sich
verdunkelte, ängstigte ihn dieser Nebel ebensosehr wie jener
andere Nebel, der im Innern, der nicht eindrang, sondern sich
regte und streckte und die leeren Winkel des Körpers füllte.
Gewöhnlich bezeichnet man diesen letzteren Nebel als Ein-
samkeit.
Ein Schlüsselwort in Dicks Text ist die Ozymandiasian structure. Westermayr übersetzt das mit bizarrem Gebäude. Götting wählt ozymandiesken Bauwerk. Wirklich gut sind beide Formulierungen nicht.
Auf dem protestantischen Friedhof von Rom, Aufnahme vom 24. Februar 2023 für diesen Blog
Shelleys Grab in Rom
Ozymandias ist das bekannteste Gedicht vom englischen Dichter Percy Byshee Shelley, veröffentlicht 1818. Oyzmandias ist ein anderer Name für den ägyptischen Pharao Ramses II. Zu Shellys Zeiten war Ägypten ein Modethema: Napoleon hatte gerade Ägypten „besucht“, etwas später entzifferte Champollion die Hieroglyphen. Das Gedicht endet:
"My name is Ozymandias, king of kings:
Look on my works, ye Mighty, and despair!"
Nothing beside remains. Round the decay
Of that colossal wreck, boundless and bare
The lone and level sands stretch far away.
Bei dem Gedicht handelt es sich um Shelleys bekanntestes Gedicht, das durchaus in der (angelsächsischen) Schule durchgenommen wird – Dick durfte also hoffen, dass wenigstens ein Teil seiner Leser verstand, was er meinte: Es geht um überkommene Grösse und zunehmenden Verfall. Sein Protagonist Joseph Adams sitzt also in den Spuren vergangener Grösse in einer verfallenden Welt. Dick verlässt sich nicht allein auf die Schulkenntnis seiner Leser und wiederholt das Motiv: hunks that had once in another age formed an entrance ramp. 
Westermayrs „bizarr“ erfasst diese Bedeutung nicht. Göttings Wortschöpfung „ozymandiesk“ wirkt etwas verzweifelt, zumal ein Shelley-Bezug für einen deutschen Leser (von Science Fiction in den 70ern allemal) kaum erschliessbar ist. Eine Entsprechung lässt sich nicht leicht finden. Dicks Wiederholung mildert das Problem aber auch für die Übersetzung.
Das Grab des Cestius in Rom
Die Pyramide des Caius Cestius beim
protestantischen Friedhof in Rom
Dick selbst betrachtet auch den anderen Schlüsselsatz, der das Thema des Romans vorgibt: Usually, that latter fog is called loneliness. Westermayrs Gewöhnlich nennt man jenen Nebel die Einsamkeit ist plausibel und Dick ist zufrieden. Götting übersetzt Gewöhnlich bezeichnet man diesen letzteren Nebel als Einsamkeit. Das klingt doch etwas unelegant. Dick kannte Göttings Übersetzung nicht, ob er genauso zufrieden gewesen wäre, lässt sich nicht sagen.

Und in Rom

Schon zu Cäsars Zeiten gab es eine anhaltende Begeisterung für Ägypten und so liess sich der Politiker Caius Cestius Epulo eine Pyramide als Grabmal bauen. Diese steht heute am Rand des protestantischen Friedhofs von Rom, auf dem der früh gestorbene Shelley begraben liegt. Ramses hat natürlich nichts mit den Pyramiden zu tun, er ist 1.300 Jahre nach Cheops und den anderen Bauherren der grossen Pyramiden gestorben und im Tal der Könige beerdigt. Und der Römer Cestius ist zeitlich uns näher als den Pyramiden: Die Pyramiden sind alt.
Bibliographisches: The Penultimate Truth
  • 1964 Erstausgabe bei Belmont Books
  • 1966 erste Übersetzung, in Italien als La penultima verità
  • 1967 erste britische Ausgabe bei Jonathan Cape
Der Roman The Penultimate Truth hätte vielleicht eine deutsche Neuausgabe verdient, auch wenn Dick selbst mit ihm nicht zufrieden war: Zehn Jahre nach dem Blitz vom Bastei-Verlag Lübbe von 1984 ist die „aktuelle“ Ausgabe und stammt damit auch fast aus altägyptischer Zeit. Und so schlecht ist das Buch nicht, es gibt wahrlich Schlechteres von Dick.
Und es gibt mal wieder einen Web-Tipp: Die Seite mit allen Covern von Eyke Volkmer, darunter auch das Cover für die deutsche Erstausgabe von Zehn Jahre nach dem Blitz und einige andere Cover zu Dick ist immer noch sehr ansehnlich.

    Kleingedrucktes

    Das Zitat aus dem Brief wurde (wie alle Zitate in diesem Blog) sanft und willkürlich orthographisch korrigiert und formatiert. Da die Briefe für die Selected Letters seinerzeit von Freiwilligen kopiert wurden, sind Kopierfehler bei deutschen Wörtern wahrscheinlich, Rechtschreibfehler, auch von Dick, kein Erkenntnisgewinn (aber störend beim Lesen). Nötigenfalls sollte der interessierte Leser die Texte im „Original“, d. h. in den Selected Letters nachlesen.
    Das Wort „ebensosehr“ ist mit der Rechtschreibreform von 1996 nicht mehr korrekt, war es aber zum Zeitpunkt der Übersetzung – und steht natürlich auch so noch im Buch. Es ist daher im historischen Kontext unkorrigiert belassen.

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